Ein Landstrich für Poeten

Ganz oben auf der Liste

Von STEFAN NINK
11. April 2024 · Lass dich von der Natur trösten! Wenige Weltgegenden sind so akribisch beschrieben, so hingebungsvoll besungen wie der Lake District. Eine Gegend für ein Gefühl von früher – und für Superstars von heute.

Hunter Davies kennen bei uns nicht mehr viele Leute. In den 1960er-Jahren war das noch anders, da hatte der junge Autor gerade die erste (und bis heute einzige) autorisierte Biographie der Beatles verfasst, trieb sich im Umkreis der Fab Four herum und war das, was das Privatfernsehen heute einen B-Promi nennen würde.

Aufgewachsen war Davies in Carlisle am Rande des Lake Districts. Als sein Pop-Ruhm irgendwann verblasste, verbrachte er wieder viel Zeit in der Region im Norden Englands und ging seinem Hobby nach: Davies stellte eine Liste mit den Büchern zusammen, die jemals über seine Heimat geschrieben worden waren. Wanderführer, Gedichtsammlungen, Memoiren, geologische Fachstudien, nichts entging ihm. Er stöberte in Antiquariaten, durchforstete Bibliotheken, recherchierte in Archiven. Am Ende kam er auf mehr als 50.000 Veröffentlichungen. 50.000 Bände über eine Gegend, die von Nord nach Süd lediglich 64 Kilometer misst und 58 von Ost nach West.

Bücher und bizarre Listen haben eine lange Tradition im Lake District. Oder, anders gesagt: Bücher und Listen haben ihn zum populärsten Inlandsreiseziel Groß­britanniens gemacht, lange bevor es Instagram-Reels, Tiktok-Channels und In­fluencer gab – aber all das muss man nicht wissen, wenn man an einem frühen Morgen am Ufer eines seiner Seen steht.

Der Buttermere ist über einen schmalen Pass zu erreichen, und wenn die Wolken tief hängen, sollte man sich auf der Fahrt dorthin vor irrlichternden Schafen in Acht nehmen und davor, im links gesteuerten Mietwagen die Gänge zu verwechseln. Dann liegt der See plötzlich vor einem: Ein Spiegel, den irgendwer fugengenau zwischen die Flanken der Berge eingelassen hat. Nun stehen sie um ihn he­rum, als wollten sie sich nach der langen Nacht in Ruhe betrachten. Die Stille ist so umfassend, dass der Flügelschlag einer startenden Ente am gegenüberliegenden Ufer beinahe schmerzhaft laut herüberhallt.

Der grün gestrichene Laden ist der "Conquer Trading Post" in Keswick, ein Geschäft mit (halbwegs) originellen Souvenirs.Foto Stefan Nink

Es gibt diese raren Gegenden auf der Welt, deren Schönheit einen schon nach kurzer Zeit völlig in den Bann zieht. Meistens hat das damit zu tun, dass diese Landschaften etwas ausstrahlen, das dem Rest der Welt abhandengekommen ist. Ruhe, Weite, Frieden, ein Gefühl von früher. Auch im Lake District beschleicht einen ziemlich schnell der Verdacht, in eine andere Zeit hineingefahren zu sein. Es sieht hier so aus, wie es einst überall in England ausgesehen haben muss. In alle Himmelsrichtungen erstrecken sich Hügel und Berge bis zum Horizont, dazwischen alte Steinmauern und Hecken und manchmal auch Ruinen, dazwischen die Seen. Gerade das Fehlen des Dramatischen und Spektakulären mache die spezielle Schönheit Englands aus, lässt der Schriftsteller Kazuo Ishiguro seinen Butler Stevens im Roman „Was vom Tage übrig blieb“ während einer Autofahrt sinnieren: „Es ist, als wisse das Land um seine Schönheit, seine Größe, verspüre aber nicht das Verlangen, dies hinauszu­schreien.“

Das wiederum wollte der berühmteste Sohn des Lake Districts unbedingt. William Wordsworth stammte aus Cockermouth und war zu Beginn des 19. Jahrhunderts der berühmteste Poet Englands. Seine Gedichte glichen Huldigun­gen an die Schönheit der Natur, er ver­fasste sie auf langen Wanderungen im Rhythmus seiner Schritte im Kopf und brachte sie später aus dem Gedächtnis zu Papier.

Details aus Dove Cottage, dem Haus in dem Wordsworth schrieb: Sein Wohnzimmertisch, sein Frühstückstisch. Das Manuskript kann man im angeschlossenen Museum sehen. Fotos Stefan Nink

Wordsworth war eine Art Popstar der englischen Romantik, die Menschen belagerten sein Haus Rydal Mount, in der Hoffnung, einen kurzen Blick auf ihn wer­fen zu können. Der Dichter entfloh dem Rummel. Die meisten Tage verbrachte er in der Natur, insgesamt soll er fast 290.000 Kilometer gewandert sein. Seine Ortskenntnisse fasste er 1810 im „Guide to the Lakes“ zusammen, dem ersten Reiseführer für den Lake District, the loveliest spot that man hath ever found. Der Reiseführer sollte die Schönheit der Region zeigen. Am Ende bestimmte er ihr Schicksal.

Der „Guide to the Lakes“ wurde ein Bestseller. Und lockte Massen in eine Gegend, die bald landesweit als Wordsworthshire bekannt war. Im Zeitalter der Industrialisierung war blauer Himmel in London oder Manchester nur noch ausnahmsweise zu sehen, der Smog hing tief, die Luft stank, da klangen die Worte des Dichters verlockend. Also rückten zuerst Englands Magnaten und Fabrikbesitzer an und, als dann eine erste touristische Infrastruktur entstand, auch die Mittelschicht. Wordsworth sah das mit Ent­set­zen. Er hatte den Ansturm ausgelöst, nun schrieb er gegen ihn an. Er wetterte gegen den Trend, pompöse Sommerhäuser an die Ufer der Seen zu setzen, und verhinderte tatsächlich den Bau der Eisenbahn (die noch immer in Windermere endet). Seine Forderung, die außerge­wöhn­liche Schönheit des Lake Districts unter Schutz zu stellen, gilt als Inspiration sowohl für den britischen National Trust als auch für das National-Park-System in den USA.

2234 Kilometer Wanderpfade, 925 Kilometer Reitwege. 16.702 archäologische Stätten - und drei Millionen Schafe gibt es im Lake District. Ein Hirsch ist dagegen eine eher seltene Erscheinung.Fotos Stefan Nink

Heute kommen über zwanzig Millionen Besucher jährlich und verwandeln Orte wie Keswick, Ambleside und Win­dermere in kleine Disneylands. Dennoch braucht es selbst hier nicht mehr als ein paar Hundert Meter eine Bergflanke hinauf, um den Trubel hinter sich zu lassen. Wanderungen im Lake District sind Touren von Panorama zu Panorama, oft muss man bloß wenige Minuten gehen, um vor einer komplett anderen Aussicht zu stehen. Wie vom Wind zerrissene Spinnweben liegen die alten Trockensteinmauern in zittrigen Linien über den Hängen, blau glitzern die Seen, grün schimmern die Weiden. Und dann schiebt der Wind eine Fuhre Wolken heran, und alles ist wie in Watte verpackt.

Täler werden hier übrigens dales genannt, Bäche sind becks und – wenn sie schmaler sind – ghylls oder gills. Nur ein einziger Lake im Lake District heißt auch tatsächlich so, der Bassenthwaite Lake, alle übrigen sind meres oder tarns oder einfach waters. Und die Berge sind keine mountains, sondern fells.

Die dramatische Schönheit des Lake District hat nicht nur viel Niederschlag in der Literatur gefunden, auch Popstars können diese Gegend sehr gut für ihr Werk gebrauchen. Foto Stefan Nink

Das Standardwerk „A Pictoral Guide to the Lakeland Fells“ von Alfred Wainwright listet neben vielen anderen Dingen 214 Gipfel auf – darunter einige über 900 Meter und damit die höchsten Englands. Zehntausende Wainwright-Fans hecheln und hetzen jedes Jahr durch den Lake District, um möglichst viele dieser Berge auf ihrer Liste abzuhaken (was wiederum jedes Jahr zu vielen Hundert Rettungshubschrauberflügen führt).

Noch mehr Zahlen? 2234 Kilometer Wanderpfade, 925 Kilometer Reitwege. 16.702 archäologische Stätten. Drei Millionen Schafe. Und jährlich 3552 Millimeter Niederschlag in Seathwaite, dem nassesten Ort Großbritanniens.

Überhaupt ist der Lake District derart wassergesättigt, dass er zu lecken scheint: Überall rinnen schmale ghylls und gills die Flanken der fells hinunter, und vom Atlantik kommt ein scheinbar nie versiegender Nachschub an Regen. Meist fällt er mit stoischer Gelassenheit von einem makrelenfarbenen Himmel. Als wüsste er, dass er damit am Ende überall durchkommt, durch die angeblich wasserdichte Jacke, durch die Hose, durch die Nähte an Schuhen und Rucksack. Es gibt Tage, da sieht man das gegenüberliegende Ufer der kleinen Seen morgens nicht, und abends noch immer nicht. Wordsworth’s weather nennen die Einheimischen das.

Nur ein einziger Lake im Lake District heißt auch tatsächlich so, der Bassenthwaite Lake, alle übrigen sind meres oder tarns oder einfach waters. So wie dieser hier: Rydal Water.Foto Stefan Nink

Für einen Dichter, der vor fast zweihundert Jahren starb, ist Wordsworth im Lake District erstaunlich lebendig. Seine Verse stehen auf T-Shirts und Postkarten (I wandered lonely as a cloud), sein Porträt hängt in jedem Hotel, und natürlich gibt es in jedem historischen Pub einen Stuhl, auf dem der Dichter einst saß und ein Pint Ale trank.

Sein Dove Cottage am Ortsrand von Grasmere ist ein derart beliebtes Ausflugsziel, dass die Verwaltung sich erdreisten kann, auf den stattlichen Eintrittspreis noch fünf Pfund Parkgebühr aufzuschlagen, und trotzdem ist der Parkplatz immer voll. Die einen kommen, weil sie Wordsworths berühmtes „Daffodils“- Gedicht in der Schule auswendig lernen mussten und nie wieder aus dem Kopf bekommen haben. Die anderen, weil der Dichter inzwischen als Vorbild gilt.

Auf dem Weg nach Brotherswater: Hartsop, ein winziger und sehr pittoresker Weiler.Foto Stefan Nink

Vieles von dem, was Wordsworth vor zweihundert Jahren über die Beziehung zwischen Mensch und Natur geschrieben hat, ist vielen heute wieder wichtig. Und tatsächlich fühlt man sich beim Lesen seiner Gedichte oft direkt angesprochen. Warum machst du nicht mal ein bisschen langsamer, scheint er uns über die Zeitläufte hinweg zu fragen, warum gehst du nicht mal raus ins Grüne? Und warum bleibt du nicht mal eine halbe Stunde am Wegesrand stehen und schaust einem Schmetterling zu? Mach das mal! Das tut dir gut! Lass dich von der Natur trösten!

Wordsworth wird inzwischen in Achtsamkeitsratgebern zitiert und in Talkshows diskutiert. Neulich hat selbst Taylor Swift den Dichter aus dem Lake District gewürdigt. Take me to the lakes, where all the poets went to die, singt sie zu drama­tischen Streichern in „The Lakes“ und dass die Gipfel von Windermere aussähen wie ein guter Platz zum Weinen. What are my words worth? Taylor Swift ist die reichweitenstärkste Person auf diesem Pla­neten. „The Lakes“ wurde auf Spotify 146 Millionen Mal gestreamt, das Album fast drei Millionen Mal gekauft, das Video (das ausschließlich Pflanzen auf einem Waldboden zeigt) bei Youtube zwölf Millionen Mal angesehen.

Für den Lake District sind das keine guten Nachrichten.

Spiegelung in Buttermere, sehr früh am Morgen.Foto Stefan Nink

Anreise
Nächster Airport ist Manchester, von dort benötigt man über die M6 etwa 90 Minuten.

Übernachten
Das The Pheasant Inn liegt in der Nähe des Bassenthwaite Lake (DZ 120 Euro, inncollectiongroup.com/pheasant-inn ); das The Swan bei Grasmere ist ein guter Ausgangspunkt für Touren im Herzen der Region (inn­collectiongroup.com/the-swan-grasmere; im Winter ab 90 Euro). Mehr zum Dove Cottage: wordsworth.org.uk

Weitere Informationen
unter visitlakedistrict.com und nationalparks.uk/park/lake-district oder visitbritain.com