Wanderung durch die Cevennen :
Gesäbelt, geplündert, gemordet

Von Harald Sager
Lesezeit: 6 Min.
„Dem Ort mit südliche Note an“, schrieb Stevenson über Le Pont-de-Montvert. So ist es bis heute.  seinen Häusernund Gassen und seinem glitzernden Flussbett haftet eine nicht zu beschreibende
Im Jahr 1878 wanderte der schottische Dichter Robert Louis Stevenson mit einer Eselin durch die Cevennen. Wer seiner Route folgt, erlebt den rauen Charme eines dünn besiedelten Landstrichs, der Hippies und Hipstern zur Heimat geworden ist.

Dass eines Tages ein Wanderweg nach ihm benannt werden würde, hätte sich der Dichter Robert Louis Stevenson wohl nicht träumen lassen. Und dass ihm diese Ehre nicht in den Highlands seiner schottischen Heimat zu Teil werden würde, sondern in den Cevennen, wäre ihm wahrscheinlich ganz und gar abwegig vorgekommen. So aber ist es gekommen: Jetzt führt ein Stevenson-Pfad durch den südöstlichsten Zipfel des Zentralmassivs, durch dieses wilde Hochland mit seinen kuppenförmigen Plateaus und dichten Wäldern, mit seinen Felsen und Schluchten, durch die sich Flüsse wie der Tarn und die Jonte schlängeln. Es ist eine Welt fern der Welt, ein Universum der Einsamkeit, und bis heute ist das Département Lozère, in dem die Cevennen liegen, die am dünnsten besiedelte Region Frankreichs.

Ablenkung von der Geliebten

Das war genau nach Stevensons Geschmack, der im Sommer des Jahres 1878 Einsamkeit und Ablenkung suchte, denn seine Geliebte Fanny Osborne war soeben nach Amerika zu ihrem Mann zurückgekehrt und unentschlossen, ob sie sich von diesem scheiden lassen und Stevenson heiraten wollte – was sie zwei Jahre später schließlich tat. Außerdem interessierte er sich für den Aufstand, den die protestantischen Kamisarden in den Cevennen zwischen 1702 und 1715 gegen die Krone geführt hatten, eine wenig bekannte Episode der französischen Geschichte, wobei sich der Namen der Aufständischen von „camisa“ ableitete, dem okzitanischen Wort für das einfache Hemd, das sie im Kampf trugen. Als Enkel eines presbyterianischen Pastors war er von der religiösen Inbrunst, Wahrhaftigkeit und Kompromisslosigkeit der Kamisarden beeindruckt und wollte ihrem Wagemut an den Stätten des einstigen Geschehens nachspüren.

Wandern, schauen, entspannen: Unterwegs in den Cevennen
Wandern, schauen, entspannen: Unterwegs in den CevennenHarald Sager

Im August 1878 reiste Stevenson in die Ortschaft Le Monastier-sur-Gazeille nördlich der Cevennen, verbrachte dort einen Monat unter der Dorfbevölkerung, kaufte eine Eselin, der er den Namen Modestine gab, und zog am 22. August los. Zwölf Tage später kam er im 190 Kilometer weiter südlich gelegenen Saint-Jean-du-Gard an. Eine derartige Distanz in so kurzer Zeit zu bewältigen ist beachtlich, zumal er es mit einer überaus widerspenstigen Eselin zu tun hatte, die nur mithilfe eines Rohr- und später eines Stachelstocks zu bewegen war, das Auf und Ab der Hügellandwanderung mitzumachen. Und dazu schrieb er ja auch noch sein Tagebuch, das im Folgejahr auf mehr als hundert Seiten unter dem Titel „Travel with a Donkey in the Cevennes“ erscheinen sollte.

In Monastier hatte man sich über den Schotten noch gewundert. Nicht nur darüber, dass er sich überhaupt freiwillig so lange hier aufhielt, sondern vor allem darüber, dass er die Cevennen durchqueren wollte: „Von einem Reisenden meiner Sorte hatte man bis dahin in dieser Gegend noch nie gehört“, schrieb Stevenson in sein Tagebuch. Das hat sich in der Zwischenzeit radikal geändert. Heute gehören die Cevennen, die 1970 zum Nationalpark und 2011 zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt wurden, zu den populärs­ten Wandergebieten Frankreichs – und einer der Weitwanderwege, der Grande Randonnée Nr. 70, trägt den Namen des schottischen Poeten.

Bergaufmarsch durch Wälder

Er folgt im Wesentlichen dessen Route, beginnt aber etwas nördlich in Le-Puy-en-Velay im Département Haute-Loire, und weicht gelegentlich ab, et­wa auf der Etappe zwischen Le Pont-de-Montvert und Bédouès-Cocurès. Die Landstraße längs des Tarn, die Stevenson nahm, ist zwar auch heute noch wenig befahren, aber auch außerordentlich schmal und genau deshalb nicht wandertauglich. Stattdessen wird ein zehn Kilometer langer Bergaufmarsch durch Wälder gegangen, bis man den Col du Sapet auf 1080 Meter Höhe erreicht. Dort bekommt man einen prächtigen Ausblick auf das Mittelgebirgsland ringsum, begrenzt vom 1567 Meter hohen Mont Aigoual im Süden und vom 1699 Meter hohen Mont Lozère im Norden, den höchsten Gipfeln der Cevennen. Letzterer bie­tet die besten Fernblicke, und Stevenson notierte, dass er bei klarem Wetter die Sicht auf den gesamten niederen Languedoc bis zum Mittelmeer gestatte: „Ich habe mit Leuten gesprochen, die von hier aus vermeintlich weiße Schiffe bei Montpellier hatten vorbeisegeln sehen.“ Das war zwar mit Sicherheit eine Übertreibung, denn die Küste liegt etwa 130 Kilometer weiter im Süden. Trotzdem ist der Rundumblick erhebend: Wellen über Wellen von teils bewaldeten, teils kahlen oder felsigen Bergrücken, die sich in der Ferne im Dunst verlieren. Diese Aus­blicke begleiten den Wanderer weiterhin, während er den mit Heidegräsern und Büschen bewachsenen Granitblock absteigt, der erst in Weideland und dann in Wälder übergeht.

Nach zehn Kilometern erreicht man wieder den Tarn und Le Pont-de-Montvert, ein hübsches Dorf mit einer Brücke und einem hohen steinernen Haus darauf, einer früheren Zollstation. Hier begann der Aufstand der Kamisarden im Jahr 1702, nachdem der besonders ei­fernde Abbé du Chayla, der die Rechtgläubigkeit der Zwangs- und Neukonvertierten überwachte, eine Gruppe von Landesflüchtigen in seinem Haus hatte festhalten lassen. Die empörten Protestanten der Umgebung stürmten es, setzten es in Brand, befreiten ihre Glaubensbrüder und Glaubensschwestern und erdolchten den Abbé du Chayla. Dann flohen sie in die unwegsamen Wälder und Täler des Umlands, die ein ideales Rückzugsgebiet waren, und nahmen ih­ren mehrjährigen Kleinkrieg gegen die Truppen der Krone auf.

Glitzerndes Flussbett

Von all diesen Turbulenzen war im September 1878 nichts mehr zu spüren. Stevenson schrieb: „Dem Ort mit seinen Häusern und Gassen und seinem glitzernden Flussbett haftet eine nicht zu beschreibende südliche Note an. Überall in den Straßen und im Wirtshaus herrschte Betrieb, und gegen elf Uhr Vormittag müssen wir nahezu zwanzig Leute am Mittagstisch gewesen sein.“ Die Stimmung ist heute nicht anders, nur dass die Cafés und Restaurants vornehmlich von Touristen gefüllt werden. Stevenson war gewissermaßen der erste Vorläufer all dieser Radfahrer, Wanderer und Biker, von denen ein großer Teil, vor allem im Juni und September, gut gelaunte, sportliche Senioren sind.

Zwei Tagesetappen geht es in südwestlicher Richtung durch hügeliges Waldland weiter, ehe man in Florac ankommt, einem weiteren Brennpunkt des Kamisarden-Aufstands. „Die Vorfahren der meisten der liebenswürdigen Menschen, denen ich begegnete, hatten gesäbelt und geschossen, gebrannt, geplündert und gemordet mit von Wut entflammtem Herzen. Und hier ist nach 170 Jahren Protestant immer noch Protestant, Katholik immer noch Katholik bei gegenseitiger To­leranz und in freundlichem Einver­neh­men“, stellt Stevenson fest und resümiert: „Die Menschheit überlebt jahrhundertealten Hass, wie ein einzelner Mensch von den Leidenschaften eines Tages erwacht.“ Im Übrigen findet er Gefallen „an dem alten Schloss, der Platanenallee und den vielen originellen Straßenecken“. All das ist recht unverändert vorhanden und Florac noch immer eine ty­pische südfranzösische Kleinstadt mit schma­len Gassen, einer Platanenallee und zurückgelehnten Restaurants, Bars und Cafés. Sogar einen aufgestauten Wildbach namens Pêcher gibt es mitten in der Stadt, der in einen pittoresken Wasserfall mündet. Genau genommen heißt der Ort Florac Trois Rivières, denn hier fließen der Tarnon, die Mimente und der Tarn zusammen. Vor allem der Tarn ist die ideale Kulisse für das Flussbaden und Campieren, Angeln und Fliegen­fischen, Kayak- und Kanufahren, und er kulminiert in den Gorges du Tarn, den großen Schluchten, die sich wie mächtige Korridore in die Höhe zwirbeln.

Eine weitere Besonderheit des Ortes ist der Donnerstagsmarkt, an dem auffallend viele Althippies fliegende Marktstände betreiben. Sie werden von den Einheimischen „baba-cools“ genannt, kamen in den Siebzigerjahren in die Gegend, um vergebens gegen eine geplante Militärbasis zu protestieren, fanden dann heraus, dass man günstig Bauernhöfe erwerben konnte, und ließen sich hier nieder. Sie leben annähernd autark, stellen Käse, Marmelade, Pullover, Keramik und dergleichen her und verkaufen das alles auf dem Markt. Ein seltsam nostalgischer Anblick sind diese gealterten „baba-cools“ in ihrer nach wie vor bunten Flohmarktkluft, mit ihren tiefen Furchen im Gesicht, den langen, grauen Haaren und den trichterförmigen Mützen à la Hieronymus Bosch obenauf, wie sie dastehen und ihre selbst gedrehten Zigaretten rauchen, welchen Inhalts auch immer.

Späte, aber sehr zeitgemäße Nachfahren der „baba-cools“ sind Benjamin Decraene, Marie-Alice Gounod und Camille Cremonini, die die Pension Les copains à bord oberhalb von Saint-Julien-d’Ar­paon, etwa zehn Kilometer außer­halb von Florac, betreiben. Die befreun­deten Hips­ter, die in Paris in derselben Cateringfirma arbeiteten, sahen den Film „Mein Liebhaber, der Esel und ich“ und beschlossen daraufhin, in die Cevennen zu ziehen. „Der Film ist eher albern, aber er hat großartige Aufnahmen der Landschaften, er wurde ja hier im Umkreis des Monts Lozère und von Florac gedreht. Wir gingen also den Stevenson-Weg und fragten alle Leute, ob sie nicht ein Haus wüssten, das zum Verkauf stand. Ein Glücksfall, dass der bisherige Betreiber dieser Herberge ohnehin in Pension gehen wollte“, sagt Camille. Vor zwei Jahren eröffneten die drei das Haus neu, das zugleich ein Etappenziel des Stevenson-Wegs ist. Erkennbar ist das üb­rigens an der Plakette „Membre de l’association sur le chemin de Robert Louis Stevenson“. Und diese Unterkünfte haben immer auch einen Stall und Futter für Esel, als rechneten sie stündlich mit der Ankunft Robert Louis Stevensons.

Das wilde Frankreich

Unterkünfte: In der Auberge des Cévennes in Le Pont-de-Montvert (https://auberge-des-ce­vennes.com) ist man stolz darauf, Stevenson aufgenommen zu haben – der in der Wirts­stube, wie er schreibt, mit der Kellnerin Clarisse flirtete – und ehrt ihn mit einem Extrazimmer voller Reiseliteratur. Le Verdier – Un p’tit coin du paradis in Saint-Michel-de-Dèze (www.domaine-leverdier.com) ist ein Chambres d’hôtes inmitten dichter Wälder bei Valescures, untergebracht in einem aufwendig restaurierten und modernisierten Gehöft. Die Stille ist total, nachts kann man die Milchstraße sehen. Informationen:Online unter www.france.fr.de, www.visit-occitanie.com/de, www.en.lozere-tourisme.com und www.chemin-stevenson.org. Robert Louis Stevensons amüsante „Reise mit dem Esel durch die Cevennen“ ist im Verlag Editions de la Colombe erschienen.