Mythos Masuren :
Man mecht’s nich gloubn

Von Arthur Schnabl
Lesezeit: 10 Min.
Eine Landschaft wie aus Poesie gemacht:  Wolken über dem Dargin-See, der zur masurischen Seenplatte gehört.
Gibt es das melancholische Masuren eines Siegfried Lenz und Ernst Wiechert wirklich, oder liegt es im Reich der Phantasie? Wer es gesucht und gefunden hat, ist sich nicht ganz sicher.

Wo sich endet das Kultur, da beginnt sich der Masur.“ Was früher ein schimpf­licher Reim war, erfüllt den Reisenden heute mit romantischen Erwartungen – die aber sofort enttäuscht werden: Die Pension Habenda im Dörfchen Krutyń, die unser polnischer Bekannter empfohlen hat, ist so gar nicht masurisch. Sie könnte genauso in Böblingen oder im Münsterland stehen, ge­diegen, gepflegt und angenehm. Stände da nicht ein alter VW-Klapperbus auf dem blitzblanken Hof herum, man wähnte sich in Schwaben. Wo ist das locker-verlotterte Leben, das wir Deutsche in Polen erhoffen oder befürchten? „Nu, wie mecht’s denn?“, fragt Brigitta Nosek, die Besitzerin der Pension und ihrer heim­lichen Hauptattraktion, „mit’m Plumpsklo, und’s Wasser holst dir vom Fluss? Wenn willst, kannst’n Eijmer zum Waschn habn.“

Das zärtlichste Schimpfen

Ach, diese Sprache, dieser Singsang mit seinen breiten Vokalen, die sich immer nach oben schwingen. Und das R wird so weijch jerollt, als wolle man es zu Striezeln backen. Wie anders klingen die berühmten Sulejker Geschichten von Siegfried Lenz, wenn sie in diesem Tonfall gelesen werden. Brigitta Nosek spricht die Sprache ihrer ostpreußischen Vorfahren, in der man so zärtlich schimpfen kann. Was sie gerade tut: „Bist’ noch zu rätten? Hast wohl zu viel Wiechert jelesen: Eijnfaches Leben! Das hammer lang jenuch gehabt, kannst mer glouben.“

Das Leben als ruhiger Fluss: In Masuren wird die Zeit anders gemessen als anderswo.
Das Leben als ruhiger Fluss: In Masuren wird die Zeit anders gemessen als anderswo.Arthur Schnabl

Ja, wie stellt man sich Masuren vor? Arno Surminski, hauptamtlicher Ostpreuße, sagt es so: „Masuren ist ein Land ohne Eile, das gern die Zeit verschläft und seine Menschen die Langeweile lehrt.“ Eine hübsche Beschreibung für den gerade schwer in Mode gekommenen Begriff der Entschleunigung. Und alle Freunde nicken, wenn man ihnen verkündet, man fahre nach Masuren. Ja, daran hätten sie auch schon mal gedacht. Warum, weiß dann aber eigentlich keiner, während sie den Kopf schütteln, wenn man sagt, man reise nach Polen. „Kann man da überhaupt Urlaub machen?“ Masuren liegt anscheinend nicht in Polen, sondern in einem imaginären Erinnerungsland, selbst bei Menschen, die gar nichts mit Ostpreußen verbindet.

Bauernhäuschen, Stechmücken, Pferdewägelchen

Also gut, hier unsere Erwartungsliste: Pferdewägelchen, Bauernhäuschen, Störche und Stechmücken. Die Wägelchen sind längst verschwunden, die Häuschen folgen gerade, die Störche sind noch da, und die Mücken werden ewig sein.

Nein, Masuren ist keineswegs ein Reservat gepflegter Langsamkeit. Es liegt jetzt mitten in Europa und verschläft die Entwicklungen nicht, wie die zahlreichen Mobilfunkmasten und die kilometerlangen Straßenbaustellen zeigen. Und statt einer „Kleinbahn namens Popp“ bringt uns ein voll klimatisierter Schnellzug von Olsztyn, dem ehemaligen Allenstein, mitten hinein ins Masurische. Wenigstens sehen die Bahnhöfe noch aus, als würde Arno Surminski sie betreiben. Und kleine Kinder winken dem Zug, was ja immer ein Zeichen schöner Rückständigkeit ist.

Auf Augenhöhe mit der Kuhschnauze

Das Dörfchen Krutyń ist ein Zentrum des Masurentourismus. Alte Holzhäuser, gediegene Pensionen, Paddelboote und Großraumbusse bilden einen seltsamen Kontrast. Das Wichtigste aber ist die Krutynia, der schönste Fluss Masurens. Ihrem stillen Zauber in Goldgrün kann man einfach nicht widerstehen. Brigitta hat für uns Paddelboote organisiert und bedauert, dass sie uns mit ihren 93 Jahren nicht mehr begleiten kann. „Nicht, dass ihr eich verfahrt. Und passt aufn Schwan auf, der hat grad Nachwuchs.“ Als zu umschiffende Hindernisse erweisen sich dann aber eher einige Kühe und Pferde, die sich vom flachen Ufer ins Wasser geflüchtet haben. Ein seltsames Gefühl, so auf Augenhöhe an einer Kuhschnauze vorbeizutreiben.

Die Weite und das Wasser: An der masurischen Seenplatte spürt man die Freiheit der Heimat.
Die Weite und das Wasser: An der masurischen Seenplatte spürt man die Freiheit der Heimat.Arthur Schnabl

Im Sommer ist Krutyń ziemlich überlaufen. Ganze Busladungen lassen sich auf Holzkähnen von geschickten Männern staken, diese Masuren-Gondoliere sind das Markenzeichen des Ortes. Wer Ruhe schätzt, sollte nicht unbedingt im Sommer nach Krutyń kommen, wenn ganze Flotten mit Akkordeonbegleitung die Stille in Scherben singen. Aber dafür im Frühjahr und im Herbst. Und er sollte zu Fuß gehen. Denn den unwirklichen Zauber dieses Landes erfährt nur der, der den Dingen auf den Leib rückt. Und so wandern wir entlang der sumpfigen Ufer des Mokr-Sees durch sandige Kiefernwälder, über alte Wiesen und Hutungen.

Unser Ziel ist das einsame Forsthaus Piersławek, in dem der berühmteste Autor Masurens, Ernst Wiechert, als Sohn eines Försters geboren wurde. Immer noch ist das kleine Backsteinhaus der Amtssitz eines Försters, wie die aufgereihten roten Feuerspaten beweisen. Kiefernwälder können lichterloh brennen. Eine Gedenktafel erinnert an den Schriftsteller und „guten Menschen“, den seine Kritik am Nationalsozialismus ins KZ Buchenwald brachte, zwar nur drei Monate lang, aber immerhin.

Die Chronik der verlorenen Dörfer

Heute ist der einstige Erfolgsautor vergessen, sein dunkler, strenger Stil aus der Mode gekommen. Hier aber, in dieser Einsamkeit, versteht man Wiecherts schwer­blütige Sprache. Und genießt sie. „Die Chronik erzählt nicht von verlorenen Dörfern. Sie liegen an den Seen und Mooren jenes östlichen Landes, mit grauen Dächern und blinden Fenstern und ein paar wilden Birnbäumen auf den steinigen Ackerrainen“, heißt es in der großen Familiensaga „Die Jerominkinder“. Keiner hat Schönheit und Traurigkeit dieser melancholischen Landschaft so klangvoll beschrieben. Ein schöntrauriger Ort ist auch die Bucht am Großen Majczsee, an der das einsame Grab von Wiecherts erster Frau Meta liegt. Sie zerbrach an der gescheiterten Ehe mit dem Schriftsteller. Jetzt, gegen Abend, legt sich das warme Licht so schimmernd über die Wasser­fläche, dass die kleine Insel im See regelrecht zu schweben scheint.

Ja, die Schönheit der masurischen Natur muss über vieles hinwegtrösten, auch über die kleinen Städte, die für ihr Aus­sehen nichts können. In zwei Weltkriegen wurden sie zerstört und danach schnell und lieblos wieder aufgebaut. Paweł Hause, der evangelische Pfarrer in Kętrzyn, dem einstigen Rastenburg, ist sich dessen bewusst. Nachdenklich erzählt er von den schrecklichen Tagen Anfang 1945, als die russische Rache über Ostpreußen kam. Dann zeigt er uns die wenigen erhaltenen Schätze, vor allem den eindrucksvollen Backstein-Dom St. Georg, diesen „Berg aus roten Dächern“, wie der Dichter Johannes Bobrowski schrieb, der in Rastenburg aufs Gymnasium ging. Gegen den ungeheuren Kirchenberg wirkt die alte Kreuzritterburg daneben wie ein Zwerg. „Bis 1939 war Masuren zu 95 Prozent lutherisch.

Kann ein Deutscher Papst werden?

Aber nach Flucht und Exodus der protestantischen Masuren sind es heute nur noch ein Prozent“, sagt Hause, der inzwischen auch als lutherischer Bischof amtiert. Die wenigen Protestanten treffen sich heute in der ehemaligen Lateinschule, in der früher die polnischen Masuren ihren Gottesdienst hatten. So ändern sich die Zeiten. Pfarrer Hause ist ein witziger Kopf, der die Diasporasituation seiner Schäfchen mit Humor zu charakterisieren weiß. „Wir existieren kaum nicht im Bewusstsein unserer katholischen Landsleute. Man nennt mich hier auch den ,deutschen‘ Pfarrer, weil ein evangelischer Christ nach hiesigem Verständnis nur ein Deutscher sein kann.Und als Josef Ratzinger Papst wurde, fragten mich viele: Kann ein Deutscher denn Papst werden? Die Deutschen sind doch lutherisch?“

Der zärtlichste Chronist Masurens: Siegfried Lenz.
Der zärtlichste Chronist Masurens: Siegfried Lenz.dpa

Gern zeigt uns Hause sein Lieblingsprojekt, die ehemalige Freimaurerloge, nach einem Entwurf von Schinkel erbaut. Heute birgt sie ein deutsch-polnisches Begegnungszentrum, benannt nach dem berühmtesten Rastenburger, dem Schriftsteller Arno Holz. Der radikale Theatererneuerer und Naturalist hatte auch eine idyllische Ader. In seinem Versepos „Phantasus“ verklärt er seine Kindheit liebevoll-ironisch: „Das alte Nest, die alten Dächer / drei kleine Straßen / mit Häuserchen wie aus einer Spielzeugschachtel / münden auf den stillen Marktplatz“.

Denkmal für den Heimatort

Vorbei, vorüber: ob Mrągowo (Sensburg), Orzysz (Arys) oder Sczytno (Ortelsburg): Es gibt dort weder Häuserchen noch stille Marktplätze. Nur der See, der zu jeder masurischen Stadt gehört, macht sie reizvoll. Die Seen, die Wolken, die kleinen Dörfer mit ihrer lässigen Herumwirtschafterei und das Licht, ja vor allem dieses andere Licht, das durch die ewig ziehenden Wolken gebrochen wird, das macht den Zauber dieser Landschaft aus.

Auch in Ełk, dem einstigen Lyck, dem Geburtsort von Siegfried Lenz, hat sich nur der alte Wasserturm als Wahrzeichen erhalten. Liebevoll wiederhergerichtet hat ihn die deutsche Minderheit, die hier ein kleines Museum mit Café betreibt. Wir treffen einige ältere Frauen an, die sich die Zeit mit Stricken vertreiben. Irgendwie lastet Vergeblichkeit auf ihnen: Man stirbt aus. Die Kinder und Enkel arbeiten oft in Deutschland, fühlen aber polnisch. Siegfried Lenz hat seinem Geburtsort mit dem Roman „Heimatmuseum“ ein Denkmal gesetzt, ein zwiespältiges, das vom Erinnern handelt, vom falschen und vom richtigen.

Die Welt der versponnenen Suleyker

Das, was der Roman „Heimatmuseum“ ernsthaft behandelt, tun die 1955 erschienenen Suleyker Geschichten mit einem Augenzwinkern. Zum ersten Mal nach dem Krieg erzählt da einer vom verlorenen deutschen Osten mit Humor und eigenwilliger Grammatik: Die Welt der versponnenen Suleyker, von Hamilkar Schas und Adolf Abromeit, liegt jenseits der deutsch-polnischen Konfliktgeschichte im Land der Phantasie. „Ist es von Erheblichkeit, ob dieses Dörfchen wirklich existiert?“, fragt Lenz seine Leser hintergründig. Sucht man aber nur lange genug, findet man es tatsächlich auf der Landkarte – etwa 25 Kilometer von Ełk entfernt. Genug für uns Fanatiker, um eine Expedition zu starten. Nach einer Irrfahrt durch eine masurische Bilderbuchlandschaft aus Hügeln, Häuschen und Seen sehen wir endlich ein Ortsschild „Sulejki“.

Ein ganz intimer Reiz: Die Seenplatte Masurens gehörte zu den Nominierten im Wettbewerb um die Sieben Naturwunder der Erde.
Ein ganz intimer Reiz: Die Seenplatte Masurens gehörte zu den Nominierten im Wettbewerb um die Sieben Naturwunder der Erde.dpa

Das Dörfchen selbst ist so unerheblich, wie es sein Autor möchte, und weiß nichts von seinem Ruhm in Deutschland. Es gibt auch keine Ortschronik, in die sich etwaige Suleyken-Fans eintragen könnten. So bleibt einem das Gefühl, der Erstentdecker zu sein. Das alte Bauernehepaar, das uns in seinem Häuschen Schutz vor Regen gewährt, wundert sich jedenfalls sehr. Wir bekommen Speck, Gurken und eine selbstverständliche Gastfreundschaft ser­viert und am Ende die Bitte, in Deutschland zu berichten, dass in Sulejki keine bösen Menschen wohnen. Philemon und Baucis auf Polnisch.

Lachen als Lebensrezept

„Man mecht’s nicht glouben“, kommentiert Brigitta Nosek unsere bizarren literarischen Ausflüge ins Niemandsland und fährt am Abend eine Runde Bärenfang auf, diesen Honigschnaps, dessen Zweck ja schon sein Name verdeutlicht. Und dann erzählt und liest sie selbst ostpreußische Anekdoten und Geschichten, dass die ganze Runde am Boden liegt vor Lachen. Bärenfang und Lachen sind Brigittas Rezepte fürs Leben und gegen den Schrecken. Auch ihre Familie ist nach dem Krieg in alle Winde zerstreut worden. Sie selbst heiratete den polnischen Herrn Nosek und blieb. Pragmatisch packte sie das neue Leben an und ist heute die allseits beliebte Gastgeberin. „Ich bin man blouß de Oma“, sagt sie, und keiner glaubt es.

Trotzdem stehen nun Abschied und Quartierwechsel an. Nach Nordosten soll es gehen, Richtung Mauersee. Dort, fast an der russischen Grenze, liegt Kietlice, eine kleine, einfache Segler-Marina, die Zimmer über dem Kuhstall anbietet. „Nu, da wirst dein eijnfaches Leben ja findn“, meint Brigitta und lächelt zuckersüß. „Und grijß mir meijn Taufengel unterwechs.“ Wir wollen nämlich noch einen Abstecher nach Sorquitten machen, in den Geburtsort Brigittas. In der dortigen Dorfkirche ist, o Wunder, der alte Barockaltar erhalten, Bauernbarock, so bunt und fröhlich unbeholfen, dass man selbst ganz froh wird. Sein Thema ist die Himmelfahrt.

Dicke Putten und schwerfällige Jünger sehen staunend dem entschwindenden Jesus nach, der – „man mecht’s nich glouben“ – in der wolken­gekrönten Kirchendecke feststeckt. Man sieht noch den Mantelsaum und die Füße, der Rest ist schon im Himmel. Masu­rische Wolken sind eben von besonderer Dichte, das haben wir bei einigen unserer Wanderungen auch schon feststellen dürfen. Ach ja, noch schnell den Taufengel grüßen, der da mit mächtigen vergoldeten Schwingen von der Decke hängt. Mit hundert Sachen scheint er heranzubrausen, in den Händen die silberne Schale, in der Klein-Brigitta vor 93 Jahren zappelte.

Die besten Kohlrouladen der Welt

Dann also Kietlice. Der Hof liegt so einsam am Mauersee, wie es sich ein Masuren-Mythomane nur wünschen kann. Lediglich einige polnische Segler verbringen hier ihre freien Tage. Störche brüten im Hof, und Hunderte von Schwalben geben sich erfreulich eifrig der Jagd auf Mücken hin. Die Zimmer sind einfach und sauber, und das Essen in der rustikalen Kneipe ist himmlisch polnisch. Die Frau Jadwiga, die Köchin, legt mütterliche Strenge an den Tag, wenn der Teller nicht leer wird, was angesichts der herrlichen Kohlrouladen, Krauteintöpfe und Borschtschsuppen kaum zu befürchten ist. Wiesen und Wälder laden zu stundenlangen Wanderungen ein, etwa zum masurischen Kanal, den die Kreuzritter anlegten, oder ins fünf Kilometer entfernte Schloss Steinort, schon wieder ein Mythos: Am Ende geht man durch die berühmte, 300 Jahre alte Eichenallee der Lehndorffs.

Übung in Bescheidenheit: ein „Marina Golf Club“ auf Masurisch.
Übung in Bescheidenheit: ein „Marina Golf Club“ auf Masurisch.Tomasz Kurianowicz

Im Herbst formen die rie­sigen knorrigen Bäume einen Tunnel aus Gold, durchbrochen von blauen Himmelsfenstern. Für jedes neue Familienmitglied wurde ein Baum gepflanzt, besagt die Legende, Geschlechterfolge als Naturgeschichte. Diese Allee wird bleiben, wenn das Schloss längst verschwunden ist. Auf einer Anhöhe thront es, verkommen und verfallen, und starrt auf das bunte Leben, das sich zu seinen Füßen ausbreitet: eine wuselige Segel-Marina mit Restaurant und Hotel repräsentiert das neue Leben. Sic transit gloria mundi. Pläne zum Wiederaufbau scheint es zu ge­ben, jedenfalls bittet die Tafel eines Unterstützungsvereins um Spenden.

NS-Faszination als Geschäftsmodell

Marion Gräfin Dönhoff hat dieser Familie in ihren Büchern ein Denkmal gesetzt, vor allem dem letzten Erben, Heinrich von Lehndorff, 1944 hingerichtet wegen seiner Teilnahme an der Stauffenberg-Verschwörung. Nur wenige Kilometer entfernt, beim Städtchen Rastenburg, liegt der einstige Tatort, die Wolfschanze. Augenfällig wird so der Zusammenhang zwischen der Zerstörung Ostpreußens und ihrem eigentlichen Grund. Die russischen Soldaten waren die Täter, die Verursacher aber saßen hier in Betongrüften eingemauert und betrieben den totalen Untergang jeglicher Menschheit.

Heute ist das „Führerhauptquartier Wolfschanze“ ein wichtiger Tourismusfaktor für Masuren, wie die Armada gewaltiger Reisebusse auf dem Parkplatz zeigt. Mit der NS-Faszination ist ein gutes Geschäft zu machen. Im neuen Andenkenshop kann man allerlei Bizarres kaufen, Tassen mit Hitlers Bunker, Thermosflaschen in Handgranatenform und Ähnliches mehr.

Aber wie, so fragt man sich, sollen Mitbringsel von einem solchen Ort auch aussehen? Auch das ehemalige SS-Gästehaus bleibt seiner Bestimmung treu und ist zu einem schicken Restaurant umgebaut worden. Muss man das gesehen haben? Vielleicht den zerborstenen Bunker Hitlers mit seinen sieben Meter dicken Mauern, der sich inzwischen unter der geduldigen Arbeit der Natur in ein beeindruckendes Felsentheater verwandelt hat. Man könnte hier den Freischütz aufführen. Gut, dass Gras über die Sache wächst. Wie schreibt Wisława Szymborska, die polnische Literaturnobelpreisträgerin: „Im Gras, das über Ursachen und Folgen wächst, / muß jemand liegen / einen Halm zwischen den Zähnen / und in die Wolken starren.“

F.A.Z.

Das tun wir dann einige Stunden später, zumindest in die Wolken starren, die sich bedenklich über dem Hafen von Gyzicko türmen. Dabei wollten wir gerade eine Fahrt über den Darin-See unternehmen. Piotr Konstantynowicz, Eigentümer und Kapitän des kleinen Passagierschiffes Poseidon lächelt: „Keine Angst. Das wird heute eine besonders schöne Fahrt.“ Piotr ist nämlich ein leidenschaftlicher Fotograf. Seine zauberhaften See- und Wasserbilder kann man, in Passepartouts gerahmt, in einer Kiste betrachten und auch kaufen. Piotr hat uns nicht zu viel versprochen.

Die Wolkenstränge ballen sich zusammen, reißen auf, wechseln von Schwarz zu Weiß, durch blaue Löcher schießen plötzlich Lichtstränge und verwandeln das tiefdunkle Wasser in silberhell leuchtende Spiegel. Dazwischen jagen kleine Regenschauer übermütig über das Schiff und uns unter Deck. Dort spielen gerade Tomasz Stanko, Leżek Możdżer und Marcin Wasilewski feinsten polnischen Jazz, flüchtig und zart, kräftig und dunkel, wie die Wolkenmeere, die über dem Schiff schwimmen. Piotr ist nämlich auch Jazzliebhaber und hat eine kleine Musikanlage eingebaut.

Doch nun steuert er die Poseidon vorsichtig durch ein flaches Schilfmeer. Denn er hat uns nicht nur ein besonderes Licht, sondern auch einen besonderen Ort versprochen, den er „Bucht des himmlischen Friedens“ nennt. Plötzlich schaltet er den Motor ab und auch den CD-Player. Jetzt liegen wir in einer kleinen, kreisrunden Bucht, und aus der einsetzenden Stille erhebt sich ein anderes Konzert: Zögernd zuerst, dann immer lauter, ertönen Hunderte von Vogelstimmen. Wir sind angekommen in der Bucht „des himmlischen Friedens“. Von hier führen keine Worte mehr weiter.