Foto: Charlie Shoemaker

Wie Urban Farming die Welt ernähren wird

Von LINDA TUTMANN
Foto: Charlie Shoemaker

05.11.2018 · Kleinste Flächen genügen um eigene Karotten und Lauch zu züchten. In den Townships von Kapstadt lässt sich besichtigen, wie sich die Ärmsten selbst versorgen können.

E s ist kurz nach acht, als Sheila Nglukumeshe ihren Kontrollgang beginnt. Sie schreitet an den Beeten entlang, von der Haustür bis zum Tor, aufrecht wie ein Soldat, die Brust raus, die Schultern zurück. Dies ist einer der ersten warmen Tage im Jahr, Anfang Oktober. In Südafrika beginnt der Frühling, morgens ist es noch frisch. Nglukumeshe hat sich ein Kopftuch um die kurzen krausen Haare gebunden, einen Wollpullover über die Bluse gestreift und einen Rock bis zu den Waden übergezogen. Sie zählt die Salatköpfe, die Spinatbüschel und die Frühlingszwiebeln. Ihr Blick gleitet zum Beet mit der Petersilie und zum Kohl. Wie auf eine Schnur gezogen, reihen sich die Köpfe aneinander. „Alles da“, sagt sie. Nglukumeshe ist froh. Letzte Woche hatte sie am Morgen ihre Beete kaum wieder erkannt, die Erde war aufgeraut und dort, wo einst die Wurzeln im Lehm verschwanden, klafften Löcher. 36 Kohlköpfe fehlten, dazu Frühlingszwiebeln und unzählige Spinatköpfe.
Sie beugt sich über den Spinat, streicht sanft über die wild wuchernden Blätter, sie sind groß genug, sie wird sie heute Mittag essen können. Nglukumeshe ist nicht mehr die Jüngste. Ihr Gesicht erzählt davon, die Falten um die Augen, auch wenn es nicht viele sind für ihre siebzig Jahre. Nglukumeshe hat immer gesund gelebt, nicht geraucht oder getrunken, wie einige ihrer Nachbarn in Nyanga, einem Township vor den Toren Kapstadts.

Kapstadt und Nyanga, das Township der neuen Gärten

„Vielleicht hatten sie Hunger“, sagt Nglukumeshe. Anders kann sie es sich nicht erklären, dass jemand nachts über ihre Mauer klettert und Spinat aus der Erde reißt. In Nyanga ist alles möglich. „The murder capital“ nennen das Viertel die Boulevard-Zeitungen, Hauptstadt des Mords, nirgendwo sonst in Südafrika werden so viele Menschen umgebracht wie in dieser Gegend. Es gehört zu den Ärmsten in Kapstadt. Nur ein paar Kilometer vom Capetown International Airport entfernt liegt es, in der Nähe der N2, die den Flughafen mit der Innenstadt verbindet. 56 Prozent haben hier keine Arbeit. Man sieht sie am Straßenrand stehen, ohne einen Plan für den Tag und ohne eine Perspektive fürs Leben. Sie träumen vom fast money, Geld, welches sich nur als Mitglied in einer Gang und im brutalen Drogengeschäft machen lässt. Die meisten, die hier wohnen, leben am Existenzminimum, viele leiden Hunger.
Auch Nglukumeshe und ihr Mann Hitla würden ohne ihren Garten nicht oft Gemüse auf den Teller bekommen. Vor mehr als zehn Jahren verlor Hitla seinen Job in der Stadt. Er arbeitete auf einer Baustelle, schichtete Ziegel übereinander, rührte den Zement an. Als das Haus fertig war, entließ ihn die Baufirma. Eigentlich wäre es Zeit für die Rente, aber das, was der Staat ihm, einem ungelernten, schwarzen Tagelöhner als Pension zahlt, ist nicht viel, knapp 2000 Rand oder 120 Euro im Monat. Wie soll er davon leben, wie seine Frau ernähren?

Nicht ohne Möhren: Sheila Nglukumeshe und Hitla Malawu in ihrer Hütte im Nyanga Township Foto: Charlie Shoemaker

Hitla merkte, dass am Ende des Monats kein Geld mehr blieb, um wenigstens ein Bündel Karotten zu kaufen oder einen Kohl. Nur für ein paar Beutel Mais vom Pick and Pay, dem Supermarkt ein paar Straßen weiter, reichte es immer. Pap, wie der feste Brei aus gestampften Mais in Südafrika heißt, die Speise der Armen, die die klebrige Masse oft dreimal am Tag essen, konnten sie sich daraus machen.
Baut doch Euer Gemüse selber an, sagte seine Schwägerin damals zu ihm. Versuchen können wir es ja, dachte er, mehr als Scheitern kann uns ja nicht passieren. Wo früher Gras wuchs, gruben sie die Erde um, säten die Samen und buddelten Kartoffel-Setzlinge ein.
Urban Gardening oder Urban Farming kennt man in Deutschland oder Westeuropa von hippen Großstädtern, die auf ihren Dachterrassen Tomaten oder Minze züchten. In Entwicklungsländern oder Schwellenländern geht es um sehr viel mehr: Hier soll das Urban Farming eines der zentralen Probleme der Zukunft lösen: im Jahr 2030 dürften sieben von zehn Menschen auf der Welt in Städten leben. Wie können diese Menschen ernährt werden? Gerade in Schwellen- und Entwicklungsländern, in Städten wie Nairobi, Addis Abea oder Rio de Janeiro, wo sie in Wellblechhütten in den Townships und den informellen Siedlungen dicht an dicht leben? Die Vision: Wenn jeder sein kleines Stück Land nutzte, um selbst Gemüse anzubauen, würde dies schon helfen, den Hunger zu lindern.


„Für den Großteil der Bewohner in den Townships ist das Gärtnern ein Rückschritt“
LIZIWE STOFILE, Lehrerin

Nglukumeshe zieht den Gartenschlauch hinter sich her, es ist früh genug, die Sonne steht noch nicht hoch, aber sie muss sich beeilen. Der Spinat, die rote Beete und die Karotten brauchen Wasser, der Lehm ist bröckelig, zu trocken. Gießt sie die Pflanzen zu spät, verdunstet alles, oder das Wasser wirkt wie ein Brennglas.

Damals vor mehr als zehn Jahren, als sie hier begann, wusste Sheila Nglukumeshe nicht viel darüber, wie man Gemüse anbaut, wann man wässert, wie viel Platz welche Wurzeln brauchen und mit welchem Abstand die Setzlinge in die Erde gegraben werden müssen. Heute erkennt sie sofort, welche Sorten Starkzehrer, Mittelzehrer oder Schwachzehrer sind, wie die Kategorien heißen, in der die Pflanzen je nach Düngebedarf eingeordnet werden. Sie zeigt auf das Beet mit den Tomaten: „Mittelzehrer“, sagt sie. „Ich hatte das alles vergessen“, sie lässt sich jetzt auf einen umgekehrten Eimer fallen und streckt die Beine aus. Das Wässern ist anstrengend. Ihre Knochen werden schnell müde. „Ich wusste nichts mehr.“ Dabei kommt sie eigentlich aus einer Bauernfamilie.

An Vitaminen mangelte es zuvor Foto: Charlie Shoemaker

Nglukumeshe wurde 1948 in Hout Bay geboren, einem Vorort an der Küste Kapstadts. Als die weißen Nationalisten in dieser Zeit die Rassentrennung und den Apartheidsstaat errichteten, gehörte Hout Bay zu den Gebieten, in denen nur Weiße leben durften. Als Nglukumeshe vier Jahre alt war, verjagten sie die Nationalisten und brachten sie nach Nyanga. Diese Vertreibungen der schwarzen Bevölkerung wirken bis heute nach: Über 70 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen werden immer noch von Weißen bestellt. Jetzt plant der aktuelle südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa eine radikale Landreform: Er möchte die Verfassung ändern und das Land ohne Kompensation an die schwarzen ehemaligen Besitzer zurück geben. Es gibt wenige Themen, die so sensibel sind, wie das Durchsetzen einer solchen Landreform.


„Ich war gewohnt, dass das Essen aus unserem Garten kam“
SHEILA NGULUMESHE, erfahrene Farmerin

Nglukumeshe deutet auf den flachen Bau, in dem sie seit der Umsiedlung nach Nyanga lebt. Zwei Zimmer, das Toilettenhaus im Garten, immerhin, mit fließendem Wasser. Ihr Vater war Farmer, er baute auf ihrem Grundstück Gemüse an, Bohnen, Kürbis, Mais und Melonen. Auch Tiere besaß die Familie, Hunde, Kühe, Hühner und Ziegen. Sie waren nicht wohlhabend, aber es war genug für alle da. „Ich war gewohnt, dass das Essen aus unserem Garten kam“, sagt Nglukumeshe.

Hier arbeiten Hitla Malawu und Vatiswa Dunjama im Vorgarten. Das Gemüse vermarkten sie auch in dem Stadtteil Foto: Charlie Shoemaker
Foto: Charlie Shoemaker
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Abends ging sie in diesen glücklichen Zeiten mit ihrem Vater die Ziegen melken. Boki nannte sie die Mutterziege, ihre Milch bekam sie vor dem Schlafen zum Trinken. Das Leben während der Apartheid war hart. Ihr Vater fuhr jeden Morgen auf einen Pick-Up mit anderen Schwarzen in die Innenstadt. Dort arbeitete er mal hier, mal dort, als Putzmann oder Gärtner. In Nyanga gab es nichts, keine Jobs, nicht mal einen kleinen Laden, keinen Supermarkt. Nglukumeshes Familie hatte Probleme, überhaupt an Essen zu kommen. In Athlone gab es den nächsten Markt, dort kauften sie den Mais – zehn Kilometer liefen sie zu Fuß dorthin und zehn zurück.

Auch nach dem Ende der Apartheid wurde es nicht viel besser, Nglukumeshe deutet auf das Tor und die Mauer, die Hitla um ihr Grundstück gebaut hat. Es ist unsicher hier in Nyanga.
Südafrika litt im letzten Jahr an der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten, es gab Wochen da verbot die Stadt den Bürgern, Pflanzen überhaupt zu wässern. „Es ist nicht einfach“, sagt Nglukumeshe. Sie stößt mit ihrer Fußspitze in die Erde. Staub wirbelt auf. Strandsand, sagt sie und zuckt mit den Schultern, was so viel heißt wie: Was soll man machen? Strandsand ist schön, wenn man im Meer schwimmt. Er verfügt aber über kaum eigene Nährstoffe und der Wind trägt ihn davon. In Nyanga spannen sie nun als Schutz gegen die trocknenden Sonnenstrahlen Netze über die Beete. „Das hilft“, sagt Nglukumeshe.

I n einem Gartencenter gibt es Unterricht für die neuen, bitterarmen Stadtgärtner. Liziwe Stofile ist die Lehrerin. „Für den Großteil der Bewohner in den Townships ist das Gärtnern ein Rückschritt,“ sagt sie. Denn viele Bewohner wollten eigentlich den Feldern des Eastern Capes entfliehen, dem rauen und armen Leben im Osten des Landes, um in Kapstadt, dem wohlhabenden Westen, richtiges Geld zu verdienen, in einem Büro oder mit dem eigenem kleinen Unternehmen und nicht wie ihre Großeltern auf den Feldern zu ackern und trotzdem nur von der Hand in den Mund zu leben: „Gärtnern ist nicht gerade das, was hier cool ist“, sagt Stofile.
Stofile steht an diesem Mittwochmorgen in einem schattigem, kleinen Raum des Abalimi Garten Centers in Khayelitsha, einem der größten Townships am Stadtrand von Kapstadt. Nyanga ist ganz nahe. Sie trägt Leggins, ein weites Hemd drüber und Sneaker. Sie weiß, wer im Garten Arbeitet, wer im Dreck kniet, braucht unkomplizierte Kleidung. Neben ihr steht eine Tafel, auf der sie mit einem Filzstift einen ersten Punkt notiert hat – das Thema für die nächste Stunde: Welche Arten von Erde gibt es?. Abalimi Bezekhaya, was so viel heißt wie Zuhause-Bauern heißt, ist eine Organisation, die in den Township Gebieten im Kapstadt das städtische Gärtnern vorantreiben möchten und die Menschen wie Sheila hilft, wenn sie Fragen zu ihrem Garten hat, wenn Pflanzen eingehen, sie nicht wachsen oder die Schnecken alles auffressen.

Für Interessierte gibt es Schulungen. Mancher Bewohner war vor Jahrzehnten einmal Bauer - und hat alles wieder verlernt. Foto: Charlie Shoemaker
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Vor Stofile sitzen sechs Teilnehmer. Sie kommen aus den umliegenden Townships, aus Langa, Nyanga oder Khayelitsha selbst. Und sie alle träumen davon, in ihren kleinen Gärten oder manchmal auch nur in ihren sandigen Hinterhöfen etwas Gemüse anzubauen.
Da ist Anele, 37, ein athletischer junger Mann, der sich und seine fünfköpfige Familie als Sicherheitsmann im Flughafen durchbringt. Da ist Asakhe, 35, deren Ehemann vor ein paar Monaten gestorben ist, die nun alleine für ihre beiden Söhne aufkommen muss. Die nun hofft, dass ihr Garten das Wichtigste erledigt: Ihre Kinder satt zu bekommen.

Foto: Charlie Shoemaker

Oder die 50-Jährige Nonkosi, die vor kurzem ihre Stelle verloren hat und vor ein paar Wochen das erste Mal ein paar Zwiebeln in die Erde gesetzt hat.
Sie alle stehen um ein Beet herum – oder um das, was sie eigenhändig in eines verwandeln möchten: Einen trockenen Streifen sandiger Erde. Anele karrt mit einer Schubkarre geschnittenen Grases herbei. „Am Tag vorher müsst ihr die Erde wässern, so dass sie am nächsten Tag noch feucht ist“, sagt Stofile. Sie unterteilt den Streifen in drei Beete. Nonkosi bringt Pappe, sticht mit einer Schere Löcher hinein und legt sie auf den Sand. Anele kippt das getrocknete Gras auf die Pappen. Wie eine Matratze, dirigiert Stofile. Für Anele ist es das erste Mal, dass er gärtnert: „Ich dachte immer, dafür bräuchte man einen richtigen Bauernhof mit Äckern.“ Der Township Nyanga ist gerade mal drei Quadratkilometer groß, aber knapp 60000 Menschen leben hier. Anele deutet auf einen Reifen eines LKW, in dem ein früherer Kurs Gemüse gepflanzt und in dem jetzt ein paar Büschel Spinat wachsen. „So kann man es auch machen“, sagt er. Der Mangel macht nicht nur in Südafrika erfinderisch. In anderen Städten werden Garagen-Dächer bepflanzt, vertikale Beete angelegt oder Dach-Terrassen begrünt. In Kibera, dem größtem Township in Kenias Hauptstadt Nairobi, begann ein Bewohner Setzlinge in Säcke zu pflanzen, die er an einen Baum hing. Anele weiß, dass es noch Zeit brauchen wird, bis er die ersten Kartoffeln und Spinat aus seinem Hinterhof ernten kann. Aber: „Es gibt mir Sicherheit und etwas Unabhängigkeit von den Supermärkten“, sagt er. Alleine im letzten Jahr stiegen die Lebensmittelpreise in Südafrika stark an. Ein Sack Kartoffeln kostete im Supermarkt plötzlich 30 Prozent mehr.

„Urban Farming“

Die Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nation schätzt, dass rund 800 Millionen Menschen weltweit in die städtische Landwirtschaft involviert sind und rund 10 bis 15 Prozent der weltweiten Nahrungsmittel produzieren. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in Schwellen- und Entwicklungsländern. In manchen Ländern, wie etwa Malawi, betreiben fast 70 Prozent der unteren Schichten „Urban Farming“. Diese Haushalte konsumieren laut der FAO größere Mengen an Nahrungsmitteln als andere, manchmal bis zu 30 Prozent zusätzlich. Anfang 2018 veröffentlichten Forscher der Universitäten in Arizona, der Tsinghua Universität in Peking, der Berkeley Universität in Kalifornien und der Universität von Hawaii eine großangelegte Studie, die das erste Mal Auskunft über das Potential von Urban Farming für die Bekämpfung des Welthungers gibt. Sie berechneten unter anderem mittels der „Google’s Earth Engine Software“, die den Wissenschaftlern Zugriff auf unterschiedliche globale Datenbanken verschafft, dass in dem Fall, das alle verfügbaren städtischen Flächen genutzt würden, jedes Jahr bis zu 180 Millionen Tonnen mehr Gemüse produziert werden könnten. Das wären mehr als 10 Prozent der Weltproduktion.

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