Der Autor leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift "Internationale Politik und Gesellschaft".

Für progressive Beobachter gilt er derzeit als eine der letzten verbleibenden Säulen der liberalen Weltordnung: der kanadische Premierminister Justin Trudeau. Nicht zuletzt in Abgrenzung zu seinem Washingtoner Amtskollegen Donald Trump hat der Kanadier seit seinem triumphalen Wahlsieg 2015 mit klarer Haltung, einem Gespür für öffentlichkeitswirksame Symbolpolitik und einer gehörigen Portion Popstar-Charisma dem weltoffenen Kanada auf der globalen Bühne ein prominentes Gesicht verliehen. Im Magazin Rolling Stone bezeichnete man ihn deswegen  als "die beste Hoffnung der freien Welt".

Nun aber gerät Trudeau ausgerechnet in der Heimat unter Druck. Gut ein Jahr vor den Parlamentswahlen liegt die liberale Partei Trudeaus seit Wochen ungefähr gleichauf mit den konkurrierenden Konservativen. Umfragen zufolge wünscht sich eine Mehrheit von 57 Prozent der Kanadierinnen und Kanadier im kommenden Jahr einen Regierungswechsel.

Sollte sich hieran nichts ändern, würde Trudeau seine Mehrheit trotz persönlicher Popularität verlieren. Die Folge wäre entweder eine instabile Minderheitsregierung oder eine Abwahl Trudeaus nach nur einer Amtsperiode. Das aber wäre nicht nur eine dramatische, sondern auch eine historische Niederlage: Zuletzt verfehlte ein kanadischer Premierminister ein zweites Regierungsmandat im Jahr 1935.

Trudeau ist manchmal ungeschickt

Die Konservativen erfreut das. Im Sommer konnte sich in Kanadas bevölkerungsreichster Provinz Ontario ihr Kandidat Doug Ford als Premierminister durchsetzen. Ford neigt zu populistischen Vereinfachungen und ist der Bruder des mittlerweile verstorbenen Skandalbürgermeisters von Toronto – ein echter Warnschuss für Trudeau.

Beflügelt von diesem Erfolg haben die Konservativen im Hinblick auf den Wahlkampf des kommenden Jahres längst ihre Spendenakquise auf Trab gebracht – mit beeindruckenden Ergebnissen. Im zweiten Quartal des Jahres sammelten sie bereits doppelt so viel für die Kampagnenkasse wie die Liberalen. Diese wiederum stolpern von einer Krise zur nächsten. Zwar legalisiert Kanada im kommenden Monat den Konsum von Marihuana – ein Wahlversprechen Trudeaus.

Doch als politisches Leuchtturmprojekt dürfte sich das kaum verkaufen lassen. "Die Liberalen bezahlen einen Preis dafür, dass sie bisher nur einen Bruchteil ihrer hehren Versprechen überzeugend angegangen sind", meint Michael Petrou vom Global and International Studies Program der Carleton Universität in Ottawa. "Und noch schlimmer: Vieles von dem, was sie anfassten, lief erst mal gründlich schief."

Tatsächlich: Die in Aussicht gestellte Revision des Wahlrechts liegt auf Eis, die von Trudeau vorangetriebene Verstaatlichung einer umstrittenen Öl-Pipeline durch die Rocky Mountains wurde in der vergangenen Woche höchstrichterlich konterkariert und die für Kanadas Wirtschaft entscheidenden Nafta-Verhandlungen mit den USA und Mexiko gehen nur stockend voran.