Wenn ein Film einen dazu bringt, darüber nachzudenken, was man eigentlich will vom Leben, dann muss man ihm das zugutehalten. Dann hat er einen berührt, vielleicht sogar verändert. Barfuß auf Nacktschnecken ist sehenswert, weil er einem mithin eine beängstigende Selbsterfahrung beschert: Lily (Ludivine Sagnier), die verrückte Lily, nervt. Sie ist vollkommen überdreht, noch dazu undankbar. So schwer auszuhalten sogar, dass man es sekundenlang wie eine große Erleichterung empfindet, als die mütterliche Schwester Clara (Diane Kruger) sie in der Badewanne zu ertränken scheint.

Doch sogleich folgt das Entsetzen: Schon wähnt man sich der Regisseurin auf den Leim gegangen, als doktrinär entlarvt, einem System verfallen, in dem, wer nicht funktioniert, ein Störfaktor ist.



Es ist die stärkste Szene in diesem Film der Französin Fabienne Berthaud. Das Bedauerliche daran ist nur, dass sie vermutlich anders gemeint war. Gar nicht provozieren soll, nicht erschüttern im Moment der Reflexion – sondern schlicht durch die Tat an sich.


Ein Plädoyer für die Unangepasstheit, dafür, auf sein Bauchgefühl zu hören, will die Regisseurin geschaffen haben mit ihrer Familiengeschichte über zwei ungleiche Schwestern, die der Tod der Mutter urplötzlich in eine gegenseitige Abhängigkeit katapultiert. "Lily rüttelt an der herrschenden Moral und brüskiert damit ihre Umwelt", sagt Berthaud. "Sie wirft die Frage nach dem schmalen Grat zwischen normal und verrückt auf." Davon allerdings merkt der Zuschauer wenig, vielmehr scheint es im Erleben der Filmemacherin nur eine Lösung zu geben: Clara bricht mit ihrem bisherigen Leben, ihrem Job in einer Anwaltskanzlei und ihrer Ehe und betreibt fortan einen Straßenverkauf mit ihrer Schwester. Am Schluss liegen beide zusammen in einem Herz aus Gras und sind glücklich. Ende gut, alles gut – so einfach? Wie schade.

Dabei bietet der Film durchaus reizvolle Ansätze: Die Figur des Ehemanns von Clara etwa bringt die Proportionen durcheinander. Statt in ihm den Spielverderber auftreten zu lassen, den intoleranten Vernunftmenschen, zeichnet Berthaud ihn als verständnisvollen, geduldigen Unterstützer, den man ungern verlieren sieht. Bemerkenswert sind auch die Bilder des Films, die vor Fantasie und Lebenslust nur so sprühen. Bedauerlich, dass ein Freiheitsmissverständnis und das zunehmend plakative Schauspiel von Ludivine Sagnier das Werk zu seinem Nachteil bestimmen. Zwiespältig.

Erschienen im Tagesspiegel