Vor ein paar Tagen sind bei Peter Harry Carstensen (CDU) die Wildgansküken geschlüpft. Der ehemalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins lebt auf dem Land, im alten Forsthaus in Schierensee. In seinem Garten blühen schon die Kirschen und der Weißdorn, die Apfelbäume tragen dicke Knospen. „Welt“-Autorin Susanne Gaschke, SPD-Mitglied und ehemalige Oberbürgermeisterin in Kiel, traf ihn zum Gespräch.
Die Welt: Moin.
Peter Harry Carstensen: Moin, Moin.
Die Welt: Im Süden gucken die Leute einen immer belämmert an, wenn man nach zwölf Uhr „Moin“ sagt.
Carstensen: Ja, ich sag dann immer, man sollte Fremdsprachen können. „Moin“ kommt aus dem Flämisch-Friesischen und bedeutet „gut“. „Moin“ heißt also ganz allgemein „Guten Tag!“. Eine moie junge Deern ist ein hübsches junges Mädchen. Wenn früher in meiner Bundestagszeit jemand im Bundeshaus ankam und zum Pförtner „Moin“ sagte, fragte der gleich: „Wollen Sie zu Herrn Carstensen?“
Die Welt: Als wir uns das letzte Mal sahen, da haben Sie mich nach meinem Rücktritt als Kieler Oberbürgermeisterin zum Trost in einen urigen Gasthof in Techelsdorf eingeladen. Das fand ich sehr nett von Ihnen.
Carstensen: Hatten wir da nicht Wildgans? Ja, Wildgans mit Rotkohl und Klößen!
Die Welt: Unfassbar lecker.
Carstensen: Ja, da gibt es erstklassiges Wild, ich bringe da auch das Dam- und Schwarzwild hin, das ich hier jage. Und so ein Gasthof im ländlichen Raum, der hat ja nicht nur etwas mit Essen und Trinken zu tun, sondern in einem viel weiteren Sinne mit Identität: Da können Sie sehr, sehr gute Gespräche führen und erfahren wirklich etwas über die Menschen, die hier leben. Im Moment muss man allerdings vorbestellen, weil es so tollen Spargel gibt.
Die Welt: Sie waren in den vergangenen Wochen noch einmal richtig im Wahlkampf unterwegs für die CDU. Wie ist denn die Stimmung im Land? Wollen die Leute einen Wechsel?
Carstensen: (lacht) Na ja, ich sag natürlich immer: Egal, wie lange die SPD an der Regierung ist, es ist zu lange, … und das sagen die Leute mir auch. Aber auch ganz ernst: Was ich merke, ist, dass die Menschen eine ganz große Sehnsucht nach echten Gesprächen mit ihren Politikern haben.
Mir hat man früher oft vorgeworfen, ich würde zu viel Zeit auf Wochenmärkten und Volksfesten verbringen. Ich habe aber an der Currywurstbude häufig mehr erfahren als in manchem Sitzungssaal. Die Leute haben Sorgen, vielleicht sind sie gar nicht groß, aber es sind ihre Sorgen – und sie möchten, dass wir das wahrnehmen.
Die Welt: Worum ging es heute?
Carstensen: Eine Diskussion mit Ostseefischern und Landwirten in Heikendorf bei Kiel. Landwirtschaft ist in Schleswig-Holstein immer noch identitäts- und stimmungsprägend. Die Landwirte wollen Respekt für ihre harte Arbeit, nicht nur, weil sie unsere Ernährung sichern, sie prägen auch unser Landschaftsbild – zum Beispiel pflegen sie bei uns 40.000 Kilometer Knicks, also unsere landestypischen Feldbegrenzungen, das sind bewachsene Wälle aus Stein mit einer ungeheuren Artenvielfalt. Die Pflege ist teuer und aufwendig, und die Bauern möchten, dass Politik diese Leistung anerkennt.
Und was für schöne Tourismus-Bilder die knallgelb blühenden Rapsfelder auch abgeben mögen: Die Landwirte machen das nicht, damit die Leute aus Hamburg sich freuen. Sondern weil das ihr Beruf ist und sie von ihrem Geschäft leben können müssen. Deshalb brauchen sie eine gute Infrastruktur und gute Wirtschaftspolitik.
Die Welt: Schleswig-Holstein ist nicht nur das Land der spektakulären Rapsblüte, sondern auch das Land aufsehenerregender Polit-Skandale. Man denke an Uwe Barschel, Schubladen-Affäre und Engholm-Rücktritt, die Nichtwahl von Heide Simonis zur Ministerpräsidentin und andere Brutalitäten. Warum geht es hier oben immer so hart zur Sache, so kompromisslos?
Carstensen: Erstens bin ich mir nicht sicher, ob man nicht in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ähnlich viele Skandale und Skandälchen zusammenstellen könnte, wenn man danach suchte. Aber, ja: Die Barschel-Affäre war ein extremes Ereignis, damit ist die CDU und leider auch das Land sehr aufgefallen.
Dafür haben wir uns allerdings inzwischen auch sehr viel Asche aufs Haupt getan. Und was sicher stimmt: Die Parteien waren hier sehr, wie soll man sagen, nicht extrem, aber sehr – auf den Punkt, vielleicht. Die CDU war lange sehr konservativ, die SPD extrem links.
Die Welt: Und heute?
Carstensen: Also der Landes- und Fraktionsvorsitzende der SPD steht klar in der schleswig-holsteinischen Tradition und besetzt sehr linke Positionen. Mein Eindruck ist: Wenn man Ralf Stegner hat, braucht man kein Rot-Rot-Grün.
Die Welt: Und Ministerpräsident Torsten Albig?
Carstensen: Wenn man Albig wählt, kriegt man Stegner.
Die Welt: Und die Union ist inzwischen modern und nett und hat einen jungen dynamischen Spitzenkandidaten?
Carstensen: (lacht) Natürlich.
Die Welt: Das Dänentum ist seit 400 Jahren von großer Bedeutung für die schleswig-holsteinische Identität. Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren es Dänenkönige, die vielen Regionen die Glaubensfreiheit brachten. Nun hat vor Kurzem ein dänischer Politiker einer rechtspopulistischen Partei vorgeschlagen, die dänische Südgrenze wieder bis an die Eider zu verschieben – und es gab keinerlei Aufschrei, sondern eher freundliche Belustigung. Wären die Schleswig-Holsteiner lieber Dänen?
Carstensen: Das nicht. Aber Dänemark hat traditionell eine große Bedeutung für uns – und wir haben eine große Bedeutung für den gesamten skandinavischen Raum, eine Brückenfunktion zwischen dem Norden und Mitteleuropa. Deshalb ist auch die neue Fehmarnbeltquerung ...
Die Welt: ... also der geplante Straßen- und Eisenbahntunnel, der die deutsche Insel Fehmarn und die dänische Insel Lolland verbinden soll ...
Carstensen: ... ein so wichtiges Infrastrukturprojekt. Wer sich dem Dänentum besonders zugeneigt fühlt, kann bei uns den Südschleswigschen Wählerverband wählen.
Die Welt: Der SSW, die Vertretung der dänischen Minderheit, ist im ganzen Land wählbar, obwohl er mit Direktkandidaten nur im Landesteil Schleswig antreten darf – und er ist von der Fünf-Prozent-Hürde befreit. Der SSW stützt derzeit die Regierung von SPD und Grünen, ist also Teil der sogenannten Küstenkoalition.
Carstensen: Und damit haben die Dänen einen alten Grundsatz aufgegeben, der lange galt: nicht stützen und nicht stürzen. Diese Neutralität haben sie geopfert. Im Übrigen aber gilt: Von der Ruhe und Zufriedenheit unserer skandinavischen Nachbarn können auch wir lernen.
Die Welt: Schleswig-Holstein ist das Land zwischen den Meeren. Was ist der entscheidende Unterschied zwischen Nord- und Ostsee?
Carstensen: Die Nordsee kann man in der Luft schmecken.
Die Welt: Die Region hat eine beeindruckende Zahl von Künstlern und Intellektuellen hervorgebracht: Theodor Storm und Thomas Mann, Theodor Mommsen und Klaus Groth, Siegfried Lenz und Günter Grass, den Maler Emil Nolde … Gibt es etwas in der schleswig-holsteinischen Atmosphäre, das dem geistigen und künstlerischen Schaffen zuträglich ist?
Carstensen: Ich glaube, diese Künstler haben ihre Werke aus unserer einmaligen Stille heraus geschaffen. Und obwohl sich natürlich alles immer ändern muss, meine ich doch, dass wir uns diese Stille bewahren sollten. Wir haben nicht die Hektik wie in Berlin. Schleswig-Holstein ist ein fantastisches Land, um glücklich zu sein.