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Deutschland Torsten Albig

„Die Flüchtlingskrise hat es so nie gegeben“

Analphabeten oder qualifizierte Arbeitskräfte?

Über das Bildungsniveau syrischer Flüchtlinge ranken sich viele Klischees. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat nun in einer Studie die wenigen verfügbaren Informationen zusammengetragen.

Quelle: Die Welt

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Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Albig hält die Vorstellung vom Kontrollverlust durch die Flüchtlinge für eine Erfindung von Politik und Medien. Er sieht „maximal eine große Herausforderung“.

Die Welt: Herr Albig, wie sicher sind Sie, dass Sie auch in einem Jahr nach der Wahl noch Ministerpräsident sind?

Torsten Albig: Ich bin sehr zuversichtlich, dass unsere rot-grün-blaue Regierung bestätigt werden wird. Die aktuellen Umfragewerte sind gut. Unsere Regierung besitzt eine stabile, wenn auch knappe Mehrheit. Aber wir wissen: Schleswig-Holstein wählt in der Regel knapp. Wer glaubt, das Ding sei schon gegessen, der verliert aber ganz schnell seine Mehrheit wieder.

Torsten Albig (SPD) regiert in Kiel mit einer Koalition mit Grünen und SSW und kämpft für eine Wiederwahl dieses Bündnisses im Jahr 2017
Torsten Albig (SPD) regiert in Kiel mit einer Koalition mit Grünen und SSW und kämpft für eine Wiederwahl dieses Bündnisses im Jahr 2017
Quelle: picture alliance / dpa

Die Welt: 28 Prozent in Schleswig-Holstein finden Sie einen guten Wert?

Albig: Gleichauf mit der Union, die bislang immer vor uns lag. Und eine Umfrage ist immer dann gut, wenn unsere Koalition die Mehrheit hat. Und die haben wir.

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Die Welt: Vor der letzten Landtagswahl wollten Sie noch 40 Prozent erreichen.

Albig: Dass ich lieber 40 Prozent hätte, ist doch klar. Eine Volkspartei muss ein solches Ziel haben. Ich agiere aber nicht im luftleeren Raum, sondern in einer bundespolitischen Umwelt. Und die gibt im Moment nur um die 30 Prozent für uns her. Weiter kommen wir vom Bundestrend der SPD nicht weg. Hinzu kommt: Wir wissen, dass sich die AfD nicht nur bei der Union, sondern auch in unserem Wählerspektrum bedient.

Die Welt: Fänden Sie es schlimm, wenn die AfD in den nächsten Landtag einzöge?

Albig: Ich fände es unerträglich. Aber der Bürger entscheidet, und im Moment liegt sie bei uns in den Umfragen bei neun Prozent. Ich kann nur dafür werben, dass es bessere Angebote gibt als die AfD. Diese Partei hat auf keine der aktuell anstehenden Fragen eine sinnvolle Antwort. Das ist eine reine populistische Phrasendreschpartei. Für nichts eine Antwort, aber für alles einen Schuldigen.

AfD verzeichnet neuen Bestwert mit 15 Prozent

Die AfD erzielt einen Bestwert mit 15 Prozent: Im Deutschlandtrend sehen drei Viertel der Deutschen zwar eine gefährliche Nähe der AfD zum Rechtsextremismus. Die Hälfte schätzt die Partei jedoch, weil sie Probleme offen anspreche.

Quelle: Die Welt

Die Welt: Aber dass rechts von der Merkel-Union noch Platz für eine Partei ist, überrascht Sie nicht wirklich, oder?

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Albig: Nein. Das wundert mich natürlich nicht. Das ist überall in Europa so. Es ist eigentlich eher verwunderlich, dass es in Deutschland so lange keine erfolgreiche rechtspopulistische Partei gegeben hat. Insofern kommen wir jetzt in der europäischen Normalität an.

Die Welt: Wie werden Sie selbst mit der neuen Konkurrenz umgehen, zum Beispiel bei Podiumsdiskussionen vor der Wahl?

Albig: Ausgrenzen macht in meinen Augen keinen Sinn, sondern stärkt eher ein Märtyrer-Image. Wir müssen den Leuten in der Auseinandersetzung mit der AfD zeigen, dass die für nichts eine Lösung hat. Ich werde mich einer solchen Debatte jedenfalls nicht entziehen.

Die Welt: Ihre Partei klingt gerade so, als könne sie sich nicht so recht entscheiden zwischen einem dezidiert linken Profil und der Erfahrung, dass man Kanzlermehrheiten nur in der Mitte erreichen kann.

Albig: Wahlen gewinnt man, wenn man einen klaren Kurs auf ein Ziel hält, das den Menschen wichtig ist. Gerechtigkeit ist der Markenkern der SPD. Wir haben immer noch eine Welt, in der in Deutschland nur 20 Prozent der Kinder eine bessere Schulbildung haben als deren Eltern. Das ist ungerecht.

Wir sagen Handwerkern, die mit 55 einen kaputten Rücken haben, dass sie bis 70 arbeiten sollen. Das ist ungerecht. Wir haben die Panama Papers, die zeigen, dass es acht Jahre nach der großen Finanzkrise immer noch möglich ist, Milliarden am Staat vorbeizuschleusen. Das ist ungerecht. Und so gesehen haben wir im Moment eher eine Zeit, die für die SPD spricht als gegen sie.

SPD sackt auf 20 Prozent ab

Die Volksparteien verlieren an Zustimmung: Die SPD schafft es nur noch auf 20 Prozent. Der tiefste Wert, der im Deutschlandtrend jemals für sie gemessen wurde.

Quelle: Die Welt

Die Welt: Wenn das richtig wäre, läuft innerhalb der SPD aber gerade einiges schief.

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Albig: Es gelingt uns leider noch nicht, unser Ziel einer gerechteren Gesellschaft so zu vermitteln, dass die Wähler den Weg dahin wieder mit uns gehen wollen. Wir haben, anders als die Konservativen, das Problem, dass diejenigen, die uns wählen, nicht so leicht vergeben, dass man beim Regieren auch Fehler macht – beziehungsweise Kompromisse eingehen muss, die unsere Wählerschaft als Fehler missversteht. Wir haben da eine längere Sühnezeit.

Die Welt: Wie lange hält Sigmar Gabriel das noch durch?

Albig: Ich hoffe sehr, dass Sigmar Gabriel noch sehr lange durchhält. Nichts braucht die SPD derzeit weniger als eine Debatte über einen neuen Vorsitzenden oder eine neue Vorsitzende. Gabriel ist ein guter Vorsitzender.

Die Welt: Nehmen wir das Beispiel TTIP. Wo steht die SPD da eigentlich gerade?

Albig: Sie steckt genau in der Falle, in die sie immer gerät, wenn sie Regierungsverantwortung trägt. In der Opposition kann ich über TTIP wunderbar schwadronieren. Aber in einer Regierung muss man Kompromisse eingehen und Lösungen abliefern. TTIP ist kein Angriff der Amerikaner auf Europa. Selbst so ein kleines Bundesland wie Schleswig-Holstein ist auf solche Handelsabkommen angewiesen.

Die Vorbehalte der Deutschen gegen TTIP

„Die Deutschen haben sich in den letzten Jahren hysterisch da hineingesteigert.“ Das sagt Andreas Kluth, Deutschland-Korrespondent beim "The Economist", über die Vorbehalte der Deutschen gegen TTIP.

Quelle: Die Welt

Viele unserer mittelständischen Betriebe leben vom Export. Gerade Deutschland kann von TTIP profitieren. Dazu müssen wir gut verhandeln und unsere europäischen Interessen hart durchsetzen. Nur „Nein“ zu sagen reicht da eben nicht.

Die Welt: Braucht die SPD eigentlich wirklich keinen Kanzlerkandidaten, wie Sie es vor ein paar Monaten vorgeschlagen haben?

Albig: Wir werden einen haben. Die Situation der Union gegenüber der Lage im vergangenen Sommer hat sich doch deutlich verändert. Die CDU ist im freien Fall, und die Frage, ob Angela Merkel tatsächlich noch einmal antritt, beantwortet sich längst nicht mehr von selbst. Damit ändert sich die Lage komplett.

Die Welt: Hat die Flüchtlingswelle die politische Republik eigentlich auch insgesamt verändert?

Albig: Jedenfalls reden wir über wenig anderes. Politik und Medien haben monatelang nur über Flüchtlinge gesprochen und den Menschen vermittelt, es müsse „Krise“ sein. Faktisch haben wir aber keine nationale Krise, maximal eine große Herausforderung. Und jetzt stehen wir da wie die Zauberlehrlinge: Die Krisen-Geister, die wir riefen, werden wir nun nicht mehr los. Die Menschen reagieren auf eine Krise, die es so eigentlich nie gegeben hat.

Die Welt: Was ist falsch gelaufen?

Albig: Wir hätten die Geschichte anders erzählen müssen. Und zwar: Ja, da sind Menschen auf der Flucht. Sie suchen Schutz bei uns. Aber auf 83 von uns ist das nur eine Frau oder ein Mann. Ein Kind oder ein alter Mensch. 1 auf 83! Für eine Volkswirtschaft wie unsere ist das machbar. Wir sind dafür stark genug. Die Zivilgesellschaft hat ja gezeigt, wie viel dieses Land leisten kann.

Die Welt: Sie selbst haben mal kritisiert, der Antrag, die Westbalkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern zu ernennen, sei mit „Tinte direkt aus dem Eisschrank“ geschrieben. War das ein solcher verfehlter Akt von Symbolpolitik, wie Sie ihn beschreiben?

Quelle: Infografik Die Welt

Albig: Wir sollten uns alle selbstkritisch fragen, ob das, was wir gemacht haben, nicht einen Grad zu aufgeregt war. Fakt ist: Wir haben damals sehr lautstark diskutiert, wie wir die Zahl der Zuwanderer vom Balkan reduzieren könnten – und haben dabei übersehen, dass zu dem Zeitpunkt fast nur noch Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan zu uns kamen. Fast alle mit Bleiberecht. Wir führen Scheindebatten, die falsche Probleme zu groß und wahre Probleme zu klein erscheinen lassen. Das merken die Menschen.

Die Welt: Jetzt sollen, vor dem Hintergrund der Silvesternacht in Köln, Teile Nordafrikas zu sicheren Herkunftsstaaten ernannt werden. Stimmen Sie diesmal zu?

Albig: Derzeit liegt noch kein zustimmungsfähiger Vorschlag auf dem Tisch. Zumal auch diese Debatte eine Scheindebatte ist. Aus diesen Ländern kommen prozentual ganz wenige Flüchtlinge. Schnellere Verfahren auch für Nordafrikaner wären darüber hinaus möglich, wenn der Bund das BAMF endlich ausreichend ausstatten würde. Bei uns im Land wächst der Antragsstau aber weiter, anstatt endlich kleiner zu werden.

Die Welt: Im Kanzleramt spricht man von der Flüchtlingskrise mittlerweile in der Vergangenheitsform. Engagiert sich der Bund hinreichend beim Thema Integration?

Albig: Nein. Man redet dort derzeit allerhöchstens über die Abarbeitung der Themen für das nächste Jahr. Danach sollen dann Länder und Kommunen allein weitermachen. Das wird so nicht funktionieren. Integration, wenn sie gut sein soll, ist eine gemeinsame Aufgabe von Jahrzehnten.

Die Welt: Was fordern Sie konkret von Finanzminister Wolfgang Schäuble?

Albig: Der Bund muss sich klar dazu bekennen, dass er sich beispielsweise in der Grundfinanzierung der Aus- und Fortbildung sowie der sozialen Folgekosten auf Dauer in der Verantwortung sieht. Wir brauchen gar nicht in erster Linie eine Zusage der Höhe der Mittel im nächsten Jahr, sondern eine, die dem Grunde nach für die nächsten 20 Jahre unverbrüchlich gilt.

Deutschland setzt auf Abschiebung

Die Bundesregierung erhöht den Druck auf Länder, die abgelehnte Asylbewerber nicht wieder aufnehmen wollen. Derweil hofft Syrien durch eine geplante Feuerpause auf eine Entspannung in der Region.

Quelle: Die Welt

Die Welt: Ende des Jahres könnte es 500.000 abschiebepflichtige Ausländer geben. Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) macht den Ländern Druck, die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen.

Albig: Wenn die Kommunen Personen nicht abschieben, dann liegt es nicht daran, dass die keine Lust dazu hätten, sondern weil dem rechtliche Hindernisse entgegenstehen. Das größte Abschiebehindernis ist derzeit allerdings immer noch das BAMF, weil es kaum vollziehbare Bescheide gibt. Altmaier vollführt mit seinem Blick in die Zukunft einen sehr billigen Trick. Er zeigt auf andere, um zu verschleiern, dass der Bund es in der Gegenwart gerade nicht gebacken bekommt.

Die Welt: Bei diesem Thema werden Sie sich mit Ihrem Partei- und Fraktionschef hier in Schleswig-Holstein, Ralf Stegner, sicher schnell einig. Sonst auch. Müssen Sie da auch hart verhandeln?

Albig: Wir mussten in den vergangenen vier Jahren noch nie verhandeln. Wir machen gemeinsam Politik. Geräuschlos, kollegial, fair im Umgang.

Die Welt: Was entgegnen Sie den Kritikern, die sagen, dass Ralf Stegner in Schleswig-Holstein die Richtung vorgibt und Sie selbst sehr präsidial, fast wie ein Frühstücksdirektor agieren.

Albig: Denen antworte ich, dass sie von Politik herzlich wenig Ahnung haben, sich mit dem Land nicht beschäftigen und nur traurig sind, dass ihr Wunschbild des ewigen politischen Streits mit uns nicht funktioniert. Das ist schade für einige wenige Journalisten – aber gut für das Land.

Die Welt: Wie würden Sie die Rollenverteilung beschreiben?

Albig: Es gibt einen Ministerpräsidenten, der die Regierungsgeschäfte führt, und einen Partei- und Fraktionsvorsitzenden, der im Parlament für die dazu notwendige Mehrheit sorgt und selbstverständlich auch politische Impulse gibt.

Die Welt: Was haben Sie im kommenden Jahr noch vor mit Ihrer rot-grün-blauen Küstenkoalition? Welchen Schwerpunkt setzen Sie?

Albig: Bildung, noch bessere Unterrichtsversorgung, keine Debatte über Schulsysteme. Kindergartenbeiträge absenken, ein Gerechtigkeitsprojekt erster Güte. Integration. Energiewende. Infrastruktur sanieren: Wir investieren in diesem und im kommenden Jahr noch einmal 100 Millionen Euro.

Die Welt: Ganz ohne den Schlagloch-Soli, den Sie 2014 gefordert haben.

Albig: Der heißt bei der Union Pkw-Maut, kommt also vielleicht ja doch noch. (lacht) Im Übrigen: Wir haben im vergangenen Jahr einen Überschuss erwirtschaftet, sodass wir für die Abarbeitung unserer eigenen Hausaufgaben zusätzliches Geld aktuell nicht brauchen. Das Thema Flüchtlinge ist etwas anderes: Das ist eine nationale Aufgabe.

Die Welt: Falls es für die Küstenkoalition nicht reicht – stehen Sie auch für eine große Koalition zur Verfügung?

Albig: Wir kämpfen für eine Fortsetzung unseres Bündnisses mit den Grünen und dem SSW. Und am 7. Mai 2017 entscheidet dann der Wähler.

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