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Deutschland Albig über Asylkrise

„Wir haben 60.000 Flüchtlinge durchreisen lassen“

„Auch Deutschland hat gegen Dublin-Abkommen verstoßen“

Laut Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig hat Deutschland über 60.000 Flüchtlinge unregistriert nach Skandinavien reisen lassen. Das ist ein Verstoß gegen das Dublin-Abkommen.

Quelle: Die Welt

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„Machen nichts anderes als Österreich“: Laut Schleswig-Holsteins Regierungschef verstößt Deutschland ständig gegen das Dublin-III-Abkommen. Im Bund empfiehlt Albig eine rot-grüne Minderheitsregierung.

Die Welt: Herr Albig, war 2015 ein gutes Jahr?

Torsten Albig: Am Ende ja.

Die Welt: Denken Sie nicht zuerst an Krieg, Terror und Flucht?

Torsten Albig (SPD) ist seit Juni 2012 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein
Torsten Albig (SPD) ist seit Juni 2012 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein
Quelle: dpa

Albig: Doch, selbstverständlich. Wir leben in einer schweren Zeit, geprägt insbesondere von der großen Aufgabe, knapp eine Million Flüchtlinge bei uns in Deutschland aufzunehmen. Aber 2015 war für mich deshalb ein gutes Jahr, weil wir in Deutschland gezeigt haben, dass wir diese große, ja historische Herausforderung annehmen und meistern können.

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2015 haben wir alle gemeinsam in Deutschland Haltung gezeigt. Haltung und Handlungsfähigkeit. Hätten Sie mir vor einem Jahr gesagt, dass wir 2015 allein in Schleswig-Holstein mehr als 50.000 Flüchtlinge unterbringen müssen, wäre mir diese Aufgabe wohl als zu groß erschienen. Ich hätte wohl geantwortet, das kriegen wir nie hin. Haben wir aber.

Die Welt: Sie haben in diesem Jahr früh davor gewarnt, dass die ersten Prognosen über die Flüchtlingszahlen nicht zu halten sind. Wie sieht Ihre Prognose für 2016 aus?

Albig: Ich hatte und habe keine prophetischen Fähigkeiten und kann daher auch keine konkrete Zahl nennen. Auch im letzten Jahr habe ich – anders als der Bund – nur die Realität zur Kenntnis genommen. Ich bereite mich jedenfalls darauf vor, dass es erst einmal nicht weniger Flüchtlinge werden, als der Bund annimmt. Also ungefähr die Größenordnung dieses Jahres.

Die Welt: Und ist das zu schaffen?

Dauerbelastung auch für Arbeitgeber der Ehrenamtlichen

40.000 Stunden haben die ehrenamtlichen Helfer des THW in Schleswig-Holstein seit Juni geleistet. Arbeitszeit, die den Arbeitgebern der freiwilligen Helfer fehlt. Eine Langfrist-Planung ist schwer.

Quelle: Die Welt

Albig: Im Haushalt haben wir dafür Vorsorge geleistet. Inwieweit das die Gesellschaft aber leisten kann, ist eine ganz andere Frage. Denn wir können zwar viele Container für die ersten Wochen beschaffen, wir kriegen mittlerweile auch die Prozesse der Erstaufnahme in den Griff. Aber die Integration der Menschen bedarf ja viel, viel mehr. Wenn wir uns darum in Kindergärten, Schulen, mit Arbeit und mit Wohnungen vernünftig kümmern wollen, werden wir nicht auf Dauer so große Zahlen von Menschen aufnehmen können. Dann scheitert am Ende die Integration.

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Das kann, das darf keiner wollen. Ohne die unfassbar große Kraft unserer Zivilgesellschaft wäre die Flüchtlingsherausforderung derzeit gar nicht zu meistern. Ohne die Menschen aus dem Roten Kreuz, der Awo, in den Kirchen, den Flüchtlingsinitiativen und die vielen anderen Ehrenamtler wären wir schon in diesem Jahr gescheitert. Wir dürfen auch diese Menschen nicht überfordern. Am Ende sind die Kräfte jedes Menschen endlich.

Die Welt: Weil Schweden seine Grenzkontrollen verschärft, will auch Dänemark die Grenze zu Deutschland wieder kontrollieren. Was heißt das für Ihr Bundesland?

Albig: Es wirkt sich auf Deutschland aus – nicht in erster Linie auf mein Land. Die Flüchtlinge sind in der Regel gut informiert. Das heißt, sie erfahren rechtzeitig von den Grenzkontrollen und versuchen dann erst gar nicht, über Schleswig-Holstein nach Schweden zu kommen, sondern bleiben dann in Deutschland nach unseren Verteilregeln. Bisher machen wir ja im Kern nichts anderes als die Österreicher, denen Deutschland vorgeworfen hat, die Flüchtlinge zu uns durchreisen zu lassen. Wir sprechen uns aber intensiv dabei mit Kopenhagen und Stockholm ab.

Zu Wahrheit gehört also, dass wir damit auch gegen Dublin III verstoßen haben, aber zugleich für Entlastung in Deutschland gesorgt haben

Die Welt: Wie viele Flüchtlinge lassen Sie täglich nach Skandinavien durchreisen?

Albig: Es kommen viel weniger als im Herbst. Wir hatten Tage mit über 1000 Menschen, die nach Schweden wollten. Wir haben diese Flüchtlinge offiziell nie gezählt, weil sie uns klar gesagt haben, dass sie nach Schweden wollen. Aufs Jahr gerechnet haben wir wohl über 60.000 Flüchtlinge nach Skandinavien durchreisen lassen. Zu Wahrheit gehört also, dass wir damit auch gegen Dublin III verstoßen haben, aber zugleich für Entlastung in Deutschland gesorgt haben.

Die Welt: Finanziell ist die Flüchtlingskrise ein Risiko. Müssen wir mit Steuererhöhungen rechnen?

Albig: Ich denke nicht. Im Augenblick sind unsere Haushalte robust. Aber es wird aufgrund der Flüchtlingslage für die Bundesländer schwieriger, die ab 2020 verfassungsrechtlich vereinbarte Schuldenbremse einzuhalten, wenn die Flüchtlingszahlen weiter steigen. Wenn ein Land wie unseres pro Jahr 800 Millionen Euro allein für Flüchtlinge ausgeben muss, dann ist das auf Dauer nur außerordentlich schwer zu stemmen.

Quelle: Infografik Die Welt
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Die Welt: Auf die SPD wird auch die Debatte zukommen, wie sie 2017 eigentlich ins Kanzleramt einziehen will. Für welche Botschaft muss die SPD stehen, damit sie eine Chance hat?

Albig: Ziel der SPD muss sein, dass es ohne sie in Deutschland keine Regierung gibt. Das ist ein realistisches Ziel, hinter dem sich die Partei gut versammeln kann. Wenn die SPD sogar den Kanzler stellen kann, umso schöner. Aber das primäre Ziel muss Regierungsbeteiligung lauten. Wir müssen den Wählern bis 2017 zeigen, was unser Anteil an der gegenwärtigen Politik ist. Wäre die große Koalition so gut ohne unsere Beteiligung? Wir wissen, dass die Menschen sozialdemokratische Politik umgesetzt sehen wollen und dass es mehr soziale Gerechtigkeit gibt. Dafür braucht es aber Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung und nicht nur in der Opposition.

SPD-Parteitag straft Sigmar Gabriel ab

Mit nur 74,3 Prozent wurde Sigmar Gabriel erneut zum SPD-Parteivorsitzenden gewählt. Ein deutlicher Dämpfer: 2013 holte er noch 83,6 Prozent der Stimmen.

Quelle: Die Welt

Die Welt: Beim jüngsten Parteitag hat ein Viertel der Delegierten Sigmar Gabriel nicht gewählt. Schadet das eher ihm oder der SPD?

Albig: Es schadet am Ende meiner Partei mehr als ihrem Vorsitzenden. Was für eine skurrile Situation: Unser Parteichef hält eine ordentliche, sehr ehrliche Rede beim SPD-Parteitag. Und am Ende heißt es überall: Desaster für die SPD. Dann ist da der CDU-Parteitag, die Kanzlerin hält eine mittelprächtige Rede ohne jeden Esprit. Aber weil es trotzdem zehn Minuten Applaus gibt, reden alle vom Triumph.

Was hat sie denn gesagt? Wir können die Flüchtlingsströme begrenzen, aber fragt mich bitte nicht wie. Aber alles jubelt und tobt. Wenn man die jeweiligen Aussagen der Parteivorsitzenden miteinander vergleicht, fragt sich der neutrale Beobachter: Wie kommt das denn? Aber die Wahrnehmung heute ist: Die CDU ist Siegerin, die SPD Verliererin. Allein wegen des Verhaltens der Parteitage!

Die Welt: Die SPD ist vielleicht zu ehrlich mit sich selbst im Umgang.

Albig: Viele in meiner Partei übersehen, welches Signal wir in Sachen Regierungs- und Machtfähigkeit in die Republik senden mit diesem scheinbar ehrlichen Umgang. Meine Mutter fragt mich: Warum kandidieren die Leute nicht gegen Gabriel, die ihn doof finden? Schaden die nicht deiner Partei, wenn sie dann trotzdem gegen den einzigen Kandidaten stimmen, der antritt? Ich glaube, meine Mutter hat recht.

Torsten Albig outet sich als Merkel-Fan

Die SPD demontiert sich selbst: Mitglied Torsten Albig hat verkündet, dass sein Parteichef Sigmar Gabriel bei der nächsten Bundestagswahl kaum eine Chance gegen Kanzlerin Angela Merkel hätte.

Quelle: N24

Die Welt: Bleibt’s bei Ihrer Einschätzung vom Sommer: Gegen Merkel hat die SPD keine Chance?

Albig: Merkel war nie schwächer als vor den Parteitagen. Nie umstrittener in ihrem eigenen Laden. Die SPD hätte die große Chance gehabt zu zeigen, dass ich das im Sommer falsch eingeschätzt habe. Ich habe den Eindruck, wir haben diese Chance nicht genutzt. Jetzt müssen wir noch härter kämpfen, dass die Menschen uns glauben, dass wir wirklich regieren wollen.

Regieren wollen, weil wir davon überzeugt sind, dass unsere Politik unser Land stärker macht. Dass eine Regierung, an der wir nicht beteiligt sind, schlechter ist für unser Land. Ich wäre glücklich, wenn es eine sozialdemokratische Kanzlerin oder einen Kanzler gäbe. Aber meine ganze Kraft setze ich erst einmal dafür ein, dass wir weiter Politik für dieses Land machen dürfen.

Die Welt: Aber wenn die SPD 2017 den Kanzler stellt, dann wird das schon Herr Gabriel sein, oder?

Albig: Ich bin konservativ. Ich meine, der Parteivorsitzende sollte den Erstzugriff auf die Kanzlerkandidatur haben. Wir haben einen Parteichef, der das aus meiner Sicht gut macht. Ich teile nicht jede seiner Positionen. Aber in der Summe sehe ich keinen in der SPD, der das besser machen könnte als Sigmar Gabriel.

Alles andere außer Rot-Grün ist aus meiner Sicht nicht erstrebenswert

Die Welt: Muss die SPD nicht langsam mal sagen, mit wessen Hilfe sie das Kanzleramt erobern will?

Albig: Alles andere außer Rot-Grün ist aus meiner Sicht nicht erstrebenswert, auch wenn Rot-Grün rechnerisch zurzeit nur sehr schwer vorstellbar ist. Aber wir erleben auch, dass die Parteienlandschaft sich in Deutschland verändert. Dass sie europäischer wird. Mit Parteien vom linken bis an den rechten Rand auch in den Parlamenten.

Ich bedauere das sehr, aber möglicherweise müssen wir mittelfristig auch über Konstellationen nachdenken, die beispielsweise für das dänische Parlament eine Selbstverständlichkeit sind. Die jeweiligen politischen Lager erreichen keine Mehrheiten mehr, sondern es kommt zu Minderheitsregierungen, die für jedes Projekt Mehrheiten organisieren müssen.

Das ist in Deutschland heute für viele ja noch Teufelszeug. Aber Dänemark kommt damit stabil immer wieder über lange Legislaturperioden. Wir denken bisher immer nur in vier Jahren, in festen Blöcken. Das tun andere EU-Staaten schon lange nicht mehr. Das deutsche Modell ist ein denkbares, aber auch Dänemark ist kein Staat im Zustand chaotischer Auflösung.

Die Welt: Das heißt, an dem einen Tag buhlt Rot-Grün um die Linke, am anderen um die CDU.

Albig: Ich glaube, in Kopenhagen wird nicht gebuhlt, sondern mit Argumenten geworben. Das dänische Modell bedeutet, man macht dann keine in Stein gemeißelten Koalitionsverträge, sondern ringt um das jeweilige Projekt. 2017 wird das in Deutschland sicher kein Thema sein, aber mittelfristig sollten wir offener werden für solche Überlegungen. Das ist demokratietheoretisch eine durchaus charmante Lösung in einer Welt, die sich kaum noch für vier Jahre in einen Vertrag pressen lässt.

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