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Artikeltyp:MeinungNordrhein-Westfalen

Das Geschäftsmodell „Kümmerer“ ist abgewählt worden

Von Michael Stürmer
Veröffentlicht am 17.05.2017Lesedauer: 5 Minuten

Die SPD muss nicht nur ihre Wahlniederlage verkraften. Sie muss auch die Nachfolge für die zurückgetretene Parteichefin Kraft regeln. Sie hatte den Vorsitz der Landes-SPD noch am Wahlabend abgegeben.

Rot-Grün in Nordrhein-Westfalens lebte immer noch in den Achtziger-Jahren. Die Umbrüche der Gegenwart waren der Landesregierung entgangen. Aber auch die CDU ist nicht frei von dieser Gefahr.

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Des einen Freud, des anderen Leid. Das Ergebnis in Nordrhein-Westfalen erinnerte daran, dass demokratische Wahlen einem Nullsummenspiel gleichen: Was der eine gewinnt, muss der andere verlieren. Der Abend vermittelte den Verlierern ein schmerzhaftes Rendezvous mit einer veränderten Wirklichkeit in den Landen zwischen Rhein und Weser.

Denn Wahlen in Demokratien entscheiden nicht nur über die Machtverteilung in Parlament und Regierung, sondern legen auch Werte und soziale Räume bloß, Lebensformen, Meinungsströme und Interessenlagen, Identitätsbestimmungen und Zugehörigkeiten auf eine abschließende Weise, wie es keine Meinungsbefragung, keine staatliche Statistik, kein akademisches Seminar leisten können.

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Was immer Parteioligarchien hinter geschlossenen Gardinen ausarbeiten und beschließen, in letzter Instanz entscheiden alle paar Jahre die Bürger oder – wie es anbiedernd und herablassend bei den Insidern heißt – „die Menschen draußen im Lande“. Das Volk, nach dem ironischen Wort Heinrich Heines „der große Lümmel“, macht diskreten Radau mit dem Kugelschreiber auf dem Stimmzettel in der Wahlkabine.

Kohl und Blüm ohne Chance

Der Bürger respektive die Bürgerin freut sich dann, wenn abends ab 18.00 Uhr im Fernsehen die bestürzten Gesichter der Aktiven zu sehen sind oder auch, je nach Lage, die fröhlichen Mienen der Gewinner. Arbeitsplatzsicherheit ist in der Politik ein hohes Gut, gerade weil die Dauer nicht garantiert ist.

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Die SPD, die Nordrhein-Westfalen über Jahrzehnte als Eigentum betrachtete und gegen alle Liebesgaben aus Bonn, ob von Helmut Kohl oder Norbert Blüm, standhaft und fast ununterbrochen verteidigte, fühlt sich wie enteignet und gedemütigt und hat letztlich doch nur sich selbst dafür anzuklagen.

Es war die Arroganz der allzu lange wie ein Geburtsrecht behaupteten Macht und die Ignoranz gegenüber den drängenden Sorgen um Sicherheit, Gewalt und Völkerwanderungen, um bröckelnde Infrastruktur und ruinöse Autobahnbrücken, eingeschlossen Verkehrsstaus, deren Verlesung im Radio an verlorene Lebenszeit erinnert, Morgen für Morgen und Abend für Abend.

Nur die Funktionäre waren froh

Wer sollte sich mit dem Wieselwort des Kanzlerkandidaten Schulz von der verlorenen und wiederzugewinnenden Gerechtigkeit nicht verschaukelt vorkommen? Konnte das als Mantra unendlich wiederholte Wort Verwaltungs- und Regierungserfahrung ersetzen?

Oder bestenfalls ein Kopfschütteln nach sich ziehen: Wovon redet der Mann aus Würselen eigentlich? War nicht schon der ungebremste Hype um den Kandidaten zu doppeldeutig, um werbend zu wirken?

100 Prozent Begeisterung für einen durch Regierungs- oder Verwaltungserfahrung nicht ausgezeichneten Redner, das macht sich nicht gut, sondern wirft die Frage auf, wie knapp der Vorrat an fähigen Bewerbern war und ist. Die Schilderhebung des Kandidaten – „ich bin der Martin“ – machte eher die Funktionäre froh als die Wähler.

Einzig Sigmar Gabriel sah man die Erleichterung an, statt der Partei den Sündenbock zu bieten, nunmehr die Auswärtigen Angelegenheiten zu dirigieren. Die Begeisterung für den Kandidaten war, modisch gesprochen, selbstreferenziell.

Das Gesetz der Oligarchie

Alles spielte sich ab, wie vor gut hundert Jahren der Soziologe und SPD-Mann Robert Michels das Innenleben der deutschen Gewerkschaften und der wilhelminischen SPD beschrieb: nach dem „ehernen Gesetz der Oligarchie“.

Da, wo die Genossen hätten punkten können, Agenda 2010 und die brummende Wirtschaft, verteufelten sie das eigene Erfolgsprojekt und den Kanzler, dessen Name und Rang damit verbunden waren und sind. Strategie ist etwas anderes.

Die Stunde der Wahrheit schmerzt – aus leicht erklärlichen Gründen, und deshalb gibt es zahlreiche Beispiele aus der jüngeren deutschen Geschichte, wo sie verpasst wurde und selbst kapitale Fehler mit dem Mantel der Opportunität zugedeckt wurden. Von Nächstenliebe zu sprechen, verbietet sich in diesem Kontext.

Wähler der technischen Intelligenz

Die Grünen, am meisten der leutevertreiberische Jürgen Trittin mit seinen fiskalischen Folterinstrumenten, aber auch harmlose Mitmacher mit Veggie Day und ähnlichen Scherzen hatten ihre Zeit – und die ist vorbei. Die Wirklichkeit späterer Generationen ist ihnen davongeeilt: Digitalisierung, Globalisierung, Automatisierung bestimmen die industrielle Tagesordnung.

Vor vielen Jahren, Peter Glotz war ideenstarker SPD-Generalsekretär, setzte die Partei als Leitbild auf die technische Intelligenz: Wäre sie nur dabei geblieben, dann ginge es ihr besser.

Doch eigene Zukunftsblockaden und die Intimität mit den Grünen machten aus der Partei langsam aber sicher ein Waisenkind der neuen Lebensformen. Das Geschäftsmodell der „Kümmerer“, herablassend und geschäftig auf allen Marktplätzen feilgeboten, war irgendwann obsolet, und die jüngsten Wahlen brachten es an den Tag.

Wie ein Wahltag die NRW-Politik auf den Kopf stellt

Die SPD mit Hannelore Kraft stürzt ab, Armin Laschet und seine CDU triumphieren an Rhein und Ruhr - der Ausgang eines denkwürdigen Wahltages in Nordrhein-Westfalen. Jubel auch bei FDP und AfD, Enttäuschung bei den Grünen.

Helmut Kohl, der 1994 nur noch um Haaresbreite siegte, ist ein Beispiel, wie man ein Memento verpassen kann, Hannelore Kraft ein anderes Beispiel für die Bestrafung durch die Wirklichkeit.

Nach der Wahl müssen nicht nur die Verlierer in Selbstprüfung eintreten, es müssen auch die Sieger sich vor Hybris hüten und das, was vielleicht nur einem schwachen Gegner und dürftiger Abwehr zu verdanken ist, dem eigenen Ruhm zuschreiben. Nemesis, die hässliche Schwester, wartet schon auf ihr nächstes Opfer.

Das Wahlergebnis im bevölkerungsreichsten, aber längst nicht mehr muskulösesten Bundesland verweist auf die Generation, die vom Achtundsechziger-Erbe zehrte, die Anti-Mentalitäten der 80er-Jahre kultivierte und parteifähig machte und darauf Karrieren gründete und ihren Redefluss ausrichtete. Heute ist das alles überholt: der Jusosound, die Anti-Establishment-Gesänge, die Umweltapokalypse.

Der SPD, namentlich den Funktionären, sind die Umbrüche der Gegenwart entgangen. Ob das der CDU, nach dem ersten Glück über die lange entbehrte Regierungsmacht, ähnlich ergeht, bleibt abzuwarten. Die SPD von heute war zwar ein überraschender Verlierer – aber die Union auch kein bärenstarker Gewinner.

FDP-Superstar Lindner

Ähnliches wiederum gilt für die Grünen, die nur noch unter „ferner liefen“ zu nennen sind. Ihr Programm hat mit der an Risiken und Gefahren wahrhaftig nicht geizenden Gegenwart nur noch wenig zu tun. Wem die Hälfte der Wähler abhandenkommt zwischen den Wahlen, der hat ein existenzielles Problem. Mentalitäten, Prägungen von vor 30 Jahren altern schnell, und die Zeit bleibt nicht stehen.

Andere wie FDP-Superstar Christian Lindner sind mit dem Zeitgeist auf Du und Du. Schlagfertig, taktisch versiert und belehrt durch die Nahtod-Erfahrung der letzten Jahre, weiß er das Gewicht seiner gut zwölf Prozent in NRW politisch zu verdoppeln, immer in der Gewissheit, dass der Union die Koalition mit den Sozialdemokraten mittlerweile noch härter ankommt als die mit einer FDP, die aus dem Übermut der Marke Westerwelle gelernt hat, lieber den Igel zu spielen als den Hasen.

Wird die Bundestagswahl ähnlich Gericht halten? „Yesterday“, der nostalgische Beatles-Sound, muss Warnung sein.


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