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Bundestrainer macht weiter

Fußball-Deutschland hat größere Probleme als Flick

von Tobias Nordmann

Die Verantwortung der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bleibt bei Hansi Flick. Trotz des peinlichen WM-Knockouts darf der Bundestrainer weitermachen. Und das zu Recht. Denn für viele Probleme im deutschen Fußball kann er nichts. Allerdings wird er sich auch ändern müssen.

Sehnsucht nach Erlöser groß

Immer wenn die Sehnsucht im deutschen Fußball nach einem Heilsbringer am größten ist, ploppt der Name Jürgen Klopp auf. Schon auf den langen letzten Metern der erst erfolgreichen, dann zähen Ära Joachim Löw war der Liverpooler der Wunsch der Nation, um das DFB-Team aus dem Schlamassel zu ziehen. Doch dann übernahm Hansi Flick und die Nation, zumindest der Teil, der sich noch nicht von der Nationalmannschaft entfremdet hatte, war zufrieden. Eine gute Wahl, da war man sich kollektiv sicher. Anderthalb Jahre später hat sich die wieder Stimmung gedreht. Nach dem dritten vergeigten Großturnier in Serie ist die Sehnsucht nach einem Erlöser einmal mehr groß – doch Flick bleibt.

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Im deutschen Fußball, diese Erkenntnis, müsste sich mal durchsetzen, ist der Bundestrainer nicht das größte, sondern eher ein kleines Problem. Dafür braucht es keine gigantische Analyse. Klar hat Flick bei der Weltmeisterschaft (Aufstellungs und Wechsel)-Fehler gemacht. Hat etwa einen Thilo Kehrer gegen Japan aus dem Team genommen, aber hängt das Wohl und Wehe dieser Mannschaft tatsächlich an dem Verteidiger von West Ham United? Niemand kann und wird das ernsthaft behaupten. Und dass er Niklas Süle auf rechts ausprobierte, was in Dortmund gut funktionierte? Auch das wäre vor dem Turnier niemals zum übergroßen Debattenthema geworden. Ebenso wenig wie es der Verzicht auf Mats Hummels geworden war.

So lief das Krisentreffen um Bundestrainer Flick

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Die Probleme liegen woanders

Der vielleicht größte Fehler aber war das Festhalten an Thomas Müller, obwohl der nach Verletzung nicht fit wirkte und der Mannschaft so nicht weiterhelfen konnte. Nur mit seiner Kommunikationsstärke, das reicht eben nicht. Aber Flick hielt nicht aus Nibelungentreue an der bayrischen Schleichkatze fest, sondern weil er ihm in der Mangelverwaltung die beste Option erschien. Sogar im Sturmzentrum, wo Kai Havertz erst geschwächelt hatte, wo er in Niclas Füllkrug von Aufsteiger Werder Bremen trotz dessen Formstärke nicht das Allheilmittel sah und er Youssoufa Moukoko als noch nicht tauglich für das höchste Level empfand. Alles nachvollziehbar, und nichts was im Land für große Debatten gesorgt hatte.

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Und das ist alarmierender für den deutschen Fußball als jede Trainerdebatte, bei der gar nicht klar ist, ob Klopp überhaupt kontaktiert wurde und in dessen Rotation der Name Thomas Tuchel nur heiße Luft sein kann, zu groß ist die Abneigung gegen diesen Trainer bei Hans-Joachim Watzke, der sich nun federführend um die Aufarbeitung des Debakels kümmert.

Was war man sich einig, dass es nach Löws Abgang nach der EM im Sommer 2021 nur besser werden könnte. Wurde es auch, allerdings nur vorübergehend. Die ersten Gegner unter Flicks Regie wurden zwar begeisternd hergespielt, aber sie waren auch in den Untiefen der Coca-Cola-Fifa-Weltrangliste zu finden. Gegen Liechtenstein, Armenien oder Nordmazedonien konnten die sportlichen Defizite noch kaschiert werden, doch mit zunehmender Stärke des Gegners wurden die bekannten Probleme immer dringlicher: Mangel an Führungsspielern, Außenverteidigern und Top-Stürmern. Für all diese Verfehlungen kann Flick nichts. Er muss mit dem arbeiten, was qua Nationalität zur Verfügung steht. Für diese Probleme sind die Vereine verantwortlich, ebenso wie für Formkrisen.

Wieder überlagert politische Debatte alles

Wofür er auch nichts kann: Dem DFB ist es zum dritten Mal in Folge nicht gelungen, eine politische Affäre von der Nationalmannschaft fernzuhalten. 2018 war es das Özil-Gündogan-Erdogan-Foto, im vergangenen Sommer der Regenbogen-Streit mit der UEFA (auch wenn der eine andere, eine viel kleinere Dimension für die Mannschaft hatte) und nun eben das zermürbende Rumgeeiere im Skandal um die „One Love“-Binde. Ein Verband muss das Gespür besitzen, ob eine Mannschaft das aushalten kann, oder nicht. Deutschland konnte es nicht. DFB-Direktor Oliver Bierhoff hat aus den Fehlern der Vergangenheit die Konsequenzen gezogen, eine vernünftige Entscheidung.

Um die Defizite im deutschen Fußball aufzuarbeiten und zu beheben, braucht es nun eine kollektive Anstrengung. Von der DFB-Akademie und ihren Leitideen bis zur Nachwuchsausbildung in den Klubs. Ein Abschied von dem gehüteten Schatz Ballbesitz-Fußball ist damit elementar. Das fällt dann auch in den Arbeitsbereich von Flick. Der Bundestrainer muss sich einen taktischen Ansatz überlegen, wie er das zur Verfügung stehende Potenzial, über dessen Weltklasse-Wert man sicher streiten kann, stabil aufs Feld bringt. Dabei geht es nicht nur um die hohe Verteidigungslinie, die oft zu anfällig ist. Es geht um mehr Tiefe, mehr Tempo, mehr Kreativität und natürlich mehr Effizienz im Abschluss. Und es geht für Flick um mehr Entscheidungshärte, tatsächlich muss das Leistungsprinzip mehr gelten als zuvor. Auch wenn das für einen Müller bitter sein dürfte. Die Zeit der Rücksicht ist endgültig vorbei.

Realistischer Blick auf den Kader

Um die Ziele der nächsten Mission vernünftig einzuordnen, braucht es aber auch einen realistischen Blick auf die Möglichkeiten des Kaders. Ja, das beschworene Potenzial ist groß, aber ist es so groß, dass das DFB-Team bereits bei der Heim-EM eine Rolle im Titelkampf spielen kann? Viele von jenen Fußballern, die von manchen Medien als Versager abgestempelt wurden, werden auch in anderthalb Jahren in der Verantwortung stehen. Vor allem die Spieler der Jahrgänge 1995/96, die als goldene Generation gelten, etwa Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Serge Gnabry, Leroy Sané oder Niklas Süle – um nur die prominentesten Vertreter zu nennen. Sie müssen die teilweise hanebüchenen Form-Schwankungen aus sich herausbekommen, sie müssen zu echten Anführern werden. Zu Anführern, die eine Mannschaft aufrütteln, wenn diese umzukippen droht. Wie gegen Japan, wie Costa Rica.

In den Vereinen liegt der Hauptteil dieser Arbeit, Flick kann diese nur veredeln. Oder eben harte Entscheidungen treffen und dabei den Mut beweisen, die größten Talente des Landes voll in die Verantwortung zu nehmen. Wie mit Jamal Musiala schon geschehen. Florian Wirtz, Armel Bella-Kotchap und Youssoufa Moukoko (vielleicht auch irgendwann Karim Adeyemi) sind die nächsten Kandidaten aus dieser jüngsten Generation. Gleiches gilt für die als Hochbegabte geadelten Kai Havertz und Nico Schlotterbeck, sie müssen ihr Talent, ihren Anspruch und die Leistung konstant zusammenbringen, um notwendige Stützen für diese DFB-Mannschaft zu werden.

Ja, Hansi Flicks erster Versuch eines erfolgreichen Neuaufbaus ist gescheitert, aber er hat bereits in München bewiesen, wie er eine am Boden liegende Mannschaft wieder aufrichten und deren Potenzial heben kann. Und tatsächlich ist die Besetzung des Bundestrainer-Postens mit Blick auf die Kernprobleme des deutschen Fußballs das kleinste. Zu viele andere Hausaufgaben sind dringlicher. Eine bittere Erkenntnis aus der Post-Löw-Ära, in der doch alles besser werden sollte – aber nicht wurde.

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