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Presseschau "Eine Zeitenwende ist das nicht": Wehrpflicht-Pläne von Pistorius überzeugen nicht alle

Soldaten vor dem Flugabwehrsystem "Patriot". Boris Pistorius will durch seine Wehrplicht-Pläne die Zahl der Soldaten erhöhen.
Deutsche und ukrainische Soldaten vor dem Flugabwehrsystem "Patriot". Boris Pistorius will durch seine Wehrplicht-Pläne die Zahl der Soldaten erhöhen.
Die Vorschläge von Verteidigungsminister Boris Pistorius für eine neue Wehrpflicht wurden mit großem Interesse erwartet. Und nun? Nichts Halbes und nichts Ganzes – das ist der Tenor in vielen Kommentarspalten deutscher Medien. Die Pressestimmen im Überblick.

Verbindliche Musterungen, verpflichtende Fragebögen und eine Erfassung Wehrtauglicher: Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat ein Konzept für einen neuen Wehrdienst vorgelegt – als Grundlage für eine schnelle Verstärkung der Bundeswehr im Verteidigungsfall. Aus dem Pool von 40.000 Kandidaten eines Jahrgangs sollen damit von 2025 an jährlich zunächst 5000 zusätzliche Wehrpflichtige, später auch mehr gewonnen werden. "Ziel ist, diese Zahl Jahr für Jahr aufwachsen zu lassen und damit die Kapazitäten zu erhöhen", sagte Pistorius. In den Kommentarspalten der Zeitungen ist man von den Pläne des Verteidigungsministers nicht vollends überzeugt. Die Presseschau:

Pressestimmen zur Boris Pistorius' Wehrpflicht-Pläne für die Bundeswehr

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Die Pläne von (…) Boris Pistorius für ein Wiederaufleben der Wehrpflicht sind allenfalls als Vorbereitung dafür gutzuheißen. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber ein Trippelschritt. (…) Da reichte der Zeitenwendegeist der Ampelkoalition nicht einmal bis zur Bereitschaft, eine Grundgesetzänderung zu wagen. (…) Pistorius begrenzt mit seinem Plan den Aufwand, damit auch die Kosten. Das kommt Scholz entgegen, der schon Mühe hat, die unterversorgte Bundeswehr an anderer Stelle zu unterstützen, um noch krassere Mängel zu beheben als fehlenden Nachwuchs. (…) Von seiner erklärten Absicht, das Land wieder kriegstüchtig zu machen, ist Pistorius damit noch sehr weit entfernt. Die Koalition müsste, um tatsächlich in Richtung Wehrpflicht zu gehen, unangenehme Debatten führen, zum Beispiel über Wehrgerechtigkeit."

"Neue Osnabrücker Zeitung": "Wehrpflicht bedeutet ja nicht den Zwang zum Militärdienst. Im Grundgesetz ist festgeschrieben, dass niemand gegen sein Gewissen zum Dienst an der Waffe gezwungen wird; und daran darf sich auch nichts ändern. Einen Jahrgang verpflichtend zu mustern und ihm ähnlich wie in Schweden entsprechende Dienstmöglichkeiten aufzuzeigen, ist deshalb ein gangbarer Weg, auf den SPD, Grüne und Liberale ihrem Verteidigungsminister nicht unnötig Steine legen sollten. Zudem sollte die Politik nicht auf halbem Weg stehen bleiben und auch Frauen in die Pflicht nehmen. Dazu wäre zwar eine Änderung des Grundgesetzes, also eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag nötig. Wer aber einer 'Zeitenwende' – und der Gleichbehandlung der Geschlechter – gerecht werden will, muss entsprechend Mut zur Veränderung haben."

"Augsburger Allgemeine": "Eine moderne Armee ist nicht zwangsläufig eine möglichst große, sondern eine möglichst fähige. In einem Eurofighter, zum Beispiel, sind 27 Kilometer Kabel und Dutzende von Computern verbaut. Um solche Flugzeuge in Schuss zu halten, um der wachsenden Bedrohung im Cyberraum zu begegnen oder einen mit anderen Fahrzeugen und Einheiten vernetzten Panzer der neuesten Generation in ein Gefecht zu steuern, braucht die Bundeswehr Spezialisten. Darauf zu vertrauen, diese wie früher aus einem Heer von Wehrpflichtigen rekrutieren zu können, wäre naiv. Je anspruchsvoller die Aufgaben, desto größer der Wettbewerb um die besten Köpfe – und in diesem Wettbewerb muss die Bundeswehr heute vor allem eines sein: ein attraktiver Arbeitgeber."

"Frankfurter Rundschau": "Die Diskussion über die Personalprobleme der Bundeswehr läuft unter dem Schlagwort 'Wehrpflicht-Debatte' – dabei sollte klar sein, dass es keine Rückkehr zur Wehrpflicht geben darf, bei der alle 18-Jährigen zu einem Pflichtdienst verdonnert werden. Die Bundeswehr benötigt nicht den Großteil eines Jahrgangs, sondern perspektivisch nur rund 20.000 Leute, überwiegend qualifiziertes Personal für zunehmend technische Aufgaben. Es ist angesichts der Spannungen in der Welt vernünftig, wenn möglichst viele Menschen sich darüber Gedanken machen, ob das für ihren Lebensweg infrage kommt. Ein Fragebogen an alle wehrfähigen Männer und Frauen kann dafür ein geeignetes Instrument sein. Das darf aber auf keinen Fall der erste Schritt zu einer neuen Wehrpflicht sein."

"Badische Zeitung" (Freiburg): "Es ist kein Geheimnis, dass Boris Pistorius gern Größeres angestoßen hätte. Doch das, was der Minister jetzt vorschlägt, ist nicht mehr als eine Wehrpflicht light. (…) Eine Zeitenwende in der Verteidigungspolitik ist das nicht. Es ist ein Dämpfer für Pistorius, dass der Kanzler und die SPD ihm nicht mehr Spielraum gegeben haben. (…) Deutschland braucht auf jeden Fall mehr Soldaten und mehr Reservisten, um kriegstüchtig zu sein. Wer verantwortlich Politik machen will, muss dieses Ziel konsequent weiterverfolgen."

"Mitteldeutsche Zeitung" (Halle): "Nötig wäre eine allgemeine Dienstpflicht mit militärischer und ziviler Variante. Bedarf dafür gäbe es weit über die Bundeswehr hinaus. Zudem könnte eine Dienstpflicht auch der um sich greifenden Entsolidarisierung entgegenwirken. Dagegen spricht aber der grassierende Arbeitskräftemangel. Die Bundeswehr wiederum hat gar nicht mehr die Kapazitäten, um ganze Jahrgänge zu ziehen. Und zusätzlich hat die Europawahl gezeigt, wie tief der Frust vieler Junger sitzt – auch ohne Zwangsdienst. In der Ampel-Koalition will ohnehin kaum jemand eine Dienstpflicht. Entweder folgen also nach der nächsten Wahl energische Schritte hin zu einer Gewinnung von militärischem Nachwuchs. Oder Deutschland verliert dramatisch an Verteidigungsfähigkeit, was sich angesichts der Aggressivität des russischen Präsidenten Wladimir Putin bitter rächen könnte."

"Nordbayerischer Kurier": "Jetzt diskutiert Deutschland wieder über eine Wehrpflicht. Probleme, die einer solchen im Wege stehen, werden ausführlich beschrieben. Die Diskrepanz zwischen der Erkenntnis, die eigene Verteidigungsfähigkeit stärken zu wollen, und der Fähigkeit, die Erkenntnis in praktisches Handeln umzusetzen, könnte kaum offensichtlicher sein. Nicht nur die Armee, auch die Gesellschaft ist nicht verteidigungsfähig."

"Die Glocke" (Oelde): "Das vom Verteidigungsminister nun vorgestellte Modell, das junge Männer verpflichten soll, Auskunft über ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Dienst zu geben und sich bei Auswahl einer Musterung zu stellen, kann nur ein Anfang sein. Mit der Ausbildung von zunächst jährlich 5000 Rekruten kann Deutschland nicht bis 2029 verteidigungsfähig werden, wie es Pistorius fordert. Zudem dürfte diese Form der Rekrutierung auch schnell eine Gerechtigkeitsdebatte auslösen. Nötig ist ein allgemeiner Dienst, zu dem sowohl Frauen als auch Männer eines Jahrgangs verpflichtet werden. Dieser müsste sich nicht nur auf die Bundeswehr, sondern auch auf andere wichtige Einrichtungen wie Rettungsdienste und Technisches Hilfswerk erstrecken. Denn im Ernstfall müssen auch für den Zivilschutz genügend Kräfte zur Verfügung stehen."

"Westfälische Nachrichten" (Münster): "Wer bedroht wird, muss sich verteidigen können. Dafür braucht es neben Waffen eben auch Soldaten. Das ist eine Binse. Soldaten aber sind in Deutschland genauso wie andere Fachkräfte Mangelware. Schon in friedlicheren Zeiten unterschritt die Truppe zahlenmäßig das Nato-Soll. Jetzt sind die Zeiten unfriedlicher, also muss beim Rekrutieren der Druck erhöht werden. Pistorius' 'Wehrpflicht light' ist kurzfristig vermutlich zielführend, letztlich springt der Minister aber zu kurz. Ein bisschen Verpflichtung, am Ende aber die freie Entscheidung für oder gegen den Dienst an der Waffe: Das mag helfen, ein paar Tausend Wehrdienstleistende zusätzlich zu gewinnen. Dass dieses Modell junge Frauen ausschließt, ist in Zeiten von allerorts und zu Recht geforderter Gleichberechtigung allerdings ein Witz. Grundsätzlicher, gerechter und besser wäre ein Pflichtjahr für alle jungen Menschen. Nicht nur, aber eben auch bei der Bundeswehr."

Bundeswehr  Personalbestand grafisch dargestellt
Bundeswehr: Personalbestand jeweils seit Jahresende seit 1955, ohne Zivilpersonen, 1956 - 1959 Schätzungen.
© DPA Infografik / stern/rös; Quelle: Bundeswehr, Bundesarchiv, bpb, Bundestag

"Allgemeine Zeitung" (Mainz): "Was in Schweden klappt, muss in der Tat nicht in Deutschland klappen. (…) Das schwedische Modell kann allenfalls Anstoß sein. 'Papier löst keine Probleme', ätzt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Soll der Staatsbürger in Uniform zur Landesverteidigung wiederkehren, braucht es eine echte Wehrpflicht. Und dazu eine Stärkung der Reserve plus attraktivere Arbeitsplätze für Berufssoldaten. Über keins dieser Themen wird im friedensverwöhnten Deutschland gern geredet. Aber Russlands Krieg lehrt: Angenehme Alternativen gibt es nicht."

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"Märkische Oderzeitung" (Frankfurt/Oder): "Die Wahrheit ist, dass Pistorius von zwei Realitäten ausgebremst wurde: Die eine ist die der Truppe, die einem massenhaften Ansturm von Zehntausenden Rekruten pro Jahr einfach nicht gewachsen wäre. Statt die Armee zu stärken, würde eine vollumfängliche Wehrpflicht sie quasi lahmlegen. Die zweite Realität ist die in der Koalition, bis rauf zu Kanzler Olaf Scholz. Auf das Wort 'Pflicht' reagieren sie bei Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen mit unmissverständlicher Ablehnung. An dieser Wand gab es sogar für den vermeintlichen Superminister Pistorius keinen Durchbruch."

"Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung": "Gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht, und sei es in einer Version 'light', sprechen aber auch noch andere Gründe – von den fehlenden Mehrheiten im Bundestag bis zur fehlenden Fairness. Ausgesetzt wurde die Wehrpflicht ja 2011 nicht nur, weil die Zeiten so friedlich schienen und die Bundeswehr so teuer war, sondern weil schon damals nur noch ein Bruchteil eines Jahrgangs überhaupt eingezogen wurde – ein klarer Verstoß gegen das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Wehrgerechtigkeit. In diese Falle würde auch Pistorius mit einer neuen Wehrpflicht tappen, weil er 'nur' etwas mehr als 20.000 Posten in der Truppe zu besetzten hat, aber etwa 400.000 potenziell einzuziehende junge Männer pro Jahrgang. Kriegstüchtig kann die Bundeswehr auch mit Freiwilligen werden."

"Saarbrücker Zeitung": "Spannend ist die Frage, ob die von Pistorius geplante Auskunftspflicht auch für Frauen gelten muss. Dafür muss das Grundgesetz geändert werden, aber man kann diese Frage im Jahr 2024 nicht anders beantworten als mit einem klaren Ja. Im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit muss das so sein. Die möglichen späteren Aufgaben können natürlich variieren – das hängt aber nicht am Geschlecht, sondern an der körperlichen Fitness."

"Schwäbische Zeitung" (Ravensburg): "Ein Fragebogen soll, so schlägt es Verteidigungsminister Boris Pistorius vor, ein neues Wehrdienstmodell begründen. Fraglich ist, ob  das Konzept sein Ziel erreicht: Aufwuchs der Bundeswehr. Derzeit tun 181.000 Soldaten Dienst. Tendenz: sinkend. Angestrebt sind 203.000 Männer und Frauen im Jahr 2031. Nato-Experten fordern sogar 272.000 Bundeswehr-Angehörige. Um diese Zahlen zu erreichen, ist eine allgemeine, gerechte Dienstpflicht für Männer und Frauen, bei der man sich für den Einsatz in der Pflege, im Rettungsdienst, im ökologischen wie auch sozialen Bereich oder eben in der Bundeswehr entscheiden muss, angesagt. Nur dann hat die Bundeswehr eine Chance, sich zu präsentieren, zu werben und zu wachsen. Vom 'scharfen Ende' her ist zu denken: 20.000 bis 25.000 Soldaten sind jedes Jahr zu rekrutieren, damit Deutschland potenzielle Gegner glaubhaft abschrecken und sich im Ernstfall effektiv verteidigen kann. Diese Zahl muss Pistorius erreichen. Appelle allein werden nicht ausreichen."

wue DPA

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