Der Skandal um einen erzwungenen Kuss könnte, so scheint es, Spaniens Frauenbewegung zu einem ebenso großen Sprung nach vorn verhelfen wie eine Reihe von Gesetzen der vergangenen Legislaturperiode, mit der die Frauenrechte gestärkt wurden. Denn trotz seiner Weigerung zurückzutreten, wird sich Luis Rubiales wohl nicht mehr lange halten können auf dem Posten als Chef des mächtigen spanischen Fußballverbands. Dafür spricht der Sturm der Empörung, der das Land erfasst hat.
"Es wird höchste Zeit, dass auch hierzulande endlich ein Exempel statuiert wird", sagt Estibaliz Besga, eine Ärztin, die in einem städtischen Ärztezentrum inmitten von Madrid jungen, oftmals minderjährigen Frauen kostenlose Sexualberatung anbietet. "Fast täglich sehe ich, wie Frauen gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen gezwungen werden und dann versuchen, dafür eine Erklärung zu finden oder sogar die Schuld bei sich selbst suchen", erklärt die 63-Jährige. Auch bei Stürmerin Hermoso blieb nach dem erzwungenen Kuss ein Gefühl der Ohnmacht zurück. "Ich fühlte mich verwundbar und als Opfer eines impulsiven, machistischen Akts", schreibt die Kickerin in einem Post bei X, vormals Twitter.
Dass nun der Präsident des mächtigen spanischen Fußballverbandes wegen seiner Fehltritte bei der Fußball-Weltmeisterschaft in seiner Heimat zur Rechenschaft gezogen werden könnte, empfinden Besga und die meisten Frauen in Spanien als späte Gerechtigkeit. "Das ist ein wichtiges Signal für unser Land, wo solches Verhalten bislang höchstens gerügt wurde, aber sonst folgenlos blieb", so Besga.
Luis Rubiales brüskiert auch das Königshaus
Doch nicht nur der Kuss bringt Rubiales, der an der Rolle des Provokateurs offenbar immer mehr Gefallen findet, in die Bredouille. Es sind auch andere Macho-Attitüden, die der 46-Jährige gerne an den Tag legt und die nicht mehr in die heutige Zeit passen wollen – auch nicht in Spanien, einem Land, das Testosteron-gesteuerten Typen in vielen "Cojones"-Redewendungen bis heute Tribut zollt. So fasste Rubiales sich beim Jubel nach dem Sieg der Spanierinnen im WM-Finale auf der Ehrentribüne demonstrativ in den Schritt – im Beisein von Spaniens Königin Letizia und ihrer jüngeren Tochter Sofia, die nur zwei Meter entfernt standen. Dies empörte sogar Spaniens konservative Medien, wie etwa die Tageszeitung "ABC", die normalerweise nicht dafür bekannt ist, mit Machogehabe streng ins Gericht zu gehen. Das Blatt war eines der ersten, das ein Video der obszönen Geste ins Netz stellte.
Seit der Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen in Pamplona im Juli 2016 weht hierzulande ein anderer Wind. Fünf Männer, die sich selbst als"Manada" (Wolfsbande) bezeichneten, hatten sich damals in einem Online-Video des Verbrechens gebrüstet. Der Fall sorgte für einen Aufschrei in der Bevölkerung und führte zu einer Verschärfung des Sexualstrafrechts. Seither herrscht große Sensibilität bei solchen Themen.
Viele Kollegen haben Verständnis für Rubiales
Viele Männer empfinden das jedoch als Hysterie und Auswuchs eines radikalen Feminismus, wie etwa Javier Negre, der das Nachrichtenportal EDATV betreibt. Es widmet sich in diesen Tagen ganz der Verteidigung von Rubiales. Jenni Hermoso solle sich schämen, kann man dort lesen, denn sie verletze die Würde der Opfer echter Sexualverbrechen. Nach dem Kuss habe sie tagelang ausgiebig mit ihrem Team auf Ibiza gefeiert und erst danach Anzeige erstattet. So schlimm, so Negres impliziter Vorwurf, könne der angebliche Übergriff also nicht gewesen sein. Viele Männer im Land denken insgeheim genauso, wagen aber in der aufgeheizten Stimmung nicht, sich zu äußern.
Offene Unterstützung findet Rubiales vorwiegend in den Reihen der rechtsextremen Partei Vox und beim spanischen Fußballverband, der zu 95 Prozent von Männern besetzt ist. Für den spanischen Trainer des französischen Spitzenclubs PSG, Luis Enrique, ist Rubiales' Verhalten angesichts dessen hervorragender Leistungen in den vergangenen Jahren entschuldbar. Damit spricht er vielen Fußballfans unter seinen Landsleuten aus der Seele. Der Kulturkampf spiegelt sich auch bei den wichtigsten Klubs des Landes wider. Sie vertreten konträre Ansichten und beziehen keine gemeinsame Position zum Fall. Während Real Madrid sofort auf Distanz zu Rubiales ging, konnte sich der FC Barcelona nur zu einer lauwarmen Erklärung durchringen. Rubiales habe einen bedauerlichen Fehler begangen und sich mittlerweile entschuldigt, hieß es dort.
In Spaniens führenden Medien besteht derweil Einigkeit. "Das hätten die glücklichsten Tage im Leben von Jenni Hermoso und ihren Mannschaftskolleginnen sein können, aber ein mächtiger, narzisstischer und arroganter Typ hat beschlossen, dieses Glück zu zerstören und uns das Leben schwer zu machen", schreibt die namhafte Fernsehjournalistin Almudena Ariza beim Nachrichtendienst X, vormals Twitter. "Weiterhin leidet unsere Gesellschaft unter der männlichen Vorherrschaft und der Dominanz einiger ihrer Mitglieder."
Es gibt noch immer zu viele Rubiales in Spanien
"Spanien toleriert keine Rubiales mehr", kommentiert Spaniens führende Tageszeitung "El País" in ihrer Sonntagsausgabe. Die spanische Gesellschaft sei in den vergangenen Jahren gereift und verurteile derartige Verhaltensweisen mehrheitlich.
Toni Padilla, Sportchef der katalanischen Tageszeitung "Ara", sieht all dies etwas skeptischer. "Viele Señores glauben, Rubiales habe im Grunde nichts Schlimmes getan." Es handele sich um eine Art von Männern, die ihr ganzes Leben lang Privilegien genossen hätten und sich nun als Opfer fühlten. Der Fußball sei für solche Menschen ein optimales Biotop und daran werde sich auch nicht so schnell etwas ändern, glaubt Padilla. Denn ihre Mentalität habe Bestand. "Wir sind nach wie vor von Leuten wie Rubiales umzingelt."