Anzeige

Freundschaftsspiel Wien-Watschn gegen Österreich: Welchen Ausweg Julian Nagelsmann für die DFB-Elf noch sieht

Bundestrainer Julian Nagelsmann setzt in der Europameisterschaft im eigenen Land auf die "Arbeiterklasse" im DFB-Team
Bundestrainer Julian Nagelsmann setzt in der Europameisterschaft im eigenen Land auf die "Arbeiterklasse" im DFB-Team
© Alexander Hassenstein
Nach der Niederlage gegen die Türkei hat sich die DFB-Elf am Dienstagabend auch in Wien gegen Österreich eine Watschn gefangen, wie man bei unseren Nachbarn sagt. Wie Bundestrainer Julian Nagelsmann die Nationalelf jetzt noch vor einem EM-Desaster retten will.

Der Barde Rainhard Fendrich durfte an so einem triumphalen Abend natürlich nicht fehlen. "I am from Austria", die gefühlige Hymne an sein Heimatland, wurde von der Stadionregie im Ernst-Happel-Stadion aufgelegt, als die rot-weiß-roten Helden auf ihre Ehrenrunde gingen. Zehntausende an alle Fans im Wiener Prater verteilte Fähnchen wurden im Takt geschwungen, während die bedröppelten "Piefkes" Richtung Kabinentrakt verschwanden. Aus der Kurve schallten den DFB-Kickern höhnisch "Auf Wiedersehn! Auf Wiedersehn!" und – recht vulgär – "der DFB is' so am Oarsch!" entgegen.

Mehr als ein Freundschaftsländerspiel nennen die Österreicher den Nachbar-Vergleich mit Deutschland gerne. Das völlig verdiente 2:0 war der zweite Erfolg hintereinander im "Derby" wie man in der Alpenrepublik sagt – so etwas gelang zuletzt 1931. Der Dortmunder Marcel Sabitzer (29.) und der Leipzig-Spieler Christoph Baumgartner (73.) trafen sehenswert. Das letzte Aufeinandertreffen, einen WM-Test, hatte Österreich ebenfalls gewonnen, im Juni 2018 im Wörthersee-Stadion von Klagenfurt. Man hätte es damals ahnen, sich aber nicht vorstellen können, wie katastrophal die anstehende WM in Russland für das DFB-Team enden würde – und zwar mit dem Vorrunden-Aus als Gruppenletzter.



Und diesmal? Vor der Heim-EM 2024 liegt diese Mannschaft am Boden, wirkt leblos, lethargisch. Der hoch gepriesene und als Retter nach der am Ende bleiernen Ära Hansi Flick verpflichtete Julian Nagelsmann ist so schnell so tief gefallen – versunken in Problemen und Rätseln. Er rätselt über die Qualität und Euphorisierbarkeit seiner Mannschaft, die wiederum rätselt über seine Maßnahmen und taktischen Expertisen (wenn auch nicht öffentlich). Und für alle Beobachter ist die desaströse Gesamtsituation ein einziges Mysterium.

Untergangsstimmung in der DFB?

Für Nagelsmann bedeutet das 0:2 die zweite Niederlage im vierten Spiel – bei nur einem Erfolg, dem 3:1 zum Einstand im Oktober in den USA. Die beiden Oktober-Länderspiele sollten ein Erweckungserlebnis mit Blick auf die Heim-EM werden, bestenfalls mitreißend, dabei neue, seit langem verschüttete Emotionen rund um die Nationalelf hervorrufen. Das 2:3 gegen die Türkei war ein herber Dämpfer, der noch als Rückschlag verkauft wurde. Was jetzt, nach der zweiten Themaverfehlung drei Tage später, nicht mehr behauptet werden kann. 

Düstere Wolken ziehen auf nach dieser deftigen Watschn zum 2023er-Kehraus über dem 36-Jährigen, der eigentlich als Euphorisierer engagiert wurde. Alles verpufft, alle verpeilt, fast alle verprellt. Dessen Schlagworte zuletzt lauteten: ein bestimmtes Energieniveau in der Mannschaft schaffen und damit dann Euphorie bei den Fans erzeugen. Speziell diesen Kausalzusammenhang hatte Nagelsmann seinen Spielern in einer Teamsitzung nach dem größtenteils emotionslosen 2:3 gegen die qualitativ nicht bessere, aber leidenschaftlicher auftretende Türkei eindringlich eingetrichtert. 

Und nun? Die große Leere, Trübsal allüberall? Untergangsstimmung? Rein faktisch ja. 206 Tage vor Beginn der Heim-EM, die immer zu einem neu aufgelegten Sommermärchen herbeigeredet werden soll, hat die Nationalelf ein desaströses Testspiel-Jahr hinter sich mit lediglich drei Erfolgen in elf Partien – bei sechs Niederlagen. Nagelsmann wirkte wie schon am Samstag verärgert und genervt, bemängelte diesmal "fehlende Wachsamkeit" und "absurd viele Ballverluste". Die Niederlage hatte er zumindest nicht ganz ausgeschlossen, schließlich klang sein Plan für die nun anstehende schwere Zeit in den vier Monaten bis zu den nächsten Länderspielen im März wohlüberlegt. 

"Wir dürfen jetzt nicht in eine Opferrolle verfallen, sondern müssen akzeptieren, dass wir extrem viel Arbeit vor uns haben", sagte der Bundestrainer und folgerte daraus: "Diese Reise muss jeden veranlassen, mehr zu arbeiten. Es wird hier in Hinsicht auf die EM nichts leicht von der Hand gehen." Seine Forderung: "Es geht nur über deutsche Tugenden. Das ist Fakt. Wir dürfen nicht in Schönheit sterben." Da ist er wieder, der in spielerisch besseren Zeiten so freudig begrabene Mythos, im DFB-Trikot müsse oder könne man nur über den Kampf zum Spiel finden.

Leroy Sané im Aggressionsmodus

Auch DFB-Sportdirektor Rudi Völler, der einst in der Rumpelfüßler-Ära die Nationalelf völlig überraschend ins WM-Finale 2002 geführt und beim 2:1 gegen Frankreich im September als einmaliger Interims-Coach kurzzeitig reanimiert hatte, sprach in Wien davon, die Spieler müssten eben "eine Schippe drauflegen", "mehr Dynamik und Emotion reinbringen. Uns haben die fünf oder zehn Prozent an Leidenschaft wieder gefehlt." Völler sehnte wortwörtlich die "deutschen Tugenden" herbei und definierte sie so: "Man muss auch mal im richtigen Moment den Gegner wehtun." 

Im Aggressionsmodus war lediglich Leroy Sané kurz nach der Pause, seine Tätlichkeit und der daraus resultierende Platzverweis bezeichnete Völler als "naiv". In der 49. Minute brannten beim Flügelstürmer die Sicherungen durch. Sané packte den tatsächlich etwas rabiat und von hinten einsteigenden Gegenspieler Phillipp Mwene, der ebenfalls, aber nicht so heftig, handgreiflich geworden war, rüde am Hals, schmiss ihn zu Boden und sah zurecht Rot. Sanés erster Platzverweis im 602. Profispiel war ein Bärendienst für ihn, seine Mannschaft und Trainer Nagelsmann. Reumütig entschuldigte sich Sané in der Kabine vor der Mannschaft, anschließend vor den Medien. Eine Sperre von zwei bis drei Spielen dürfte den bei Bayern teils groß aufspielenden Sané erwarten.

Noch die kleinste von Nagelsmanns Baustellen. In der Defensive drückt der Schuh – aber so gewaltig, dass man kaum laufen kann. In den vergangenen 23 Spielen konnte das DFB-Team nur drei Mal zu null spielen: gegen Israel, den Oman und Peru. In diesem Jahr kassierte man pro Partie im Schnitt zwei Gegentore. Daran konnte auch der von Nagelsmann für mehr Stabilität reaktivierte Mats Hummels und das Experiment mit Kai Havertz als linkem Schienenspieler nichts ändern. Nagelsmann, in seinem Trainerdasein bisher nur als Vereinstrainer aktiv gefordert, tendiert dazu, seinen Spieler zu viele Lösungsansätze mit auf den Platz zu geben, inhaltlich zu detailliert zu werden – stets mit dem schmalen Grat, eine latente Überforderung zu riskieren. Seine Spielidee verteidigte er erneut, betonte: "Die ist sehr simpel. Es ist nicht kompliziert." Ansichtssache.

Deutschland verliert gegen Österreich: Ein bisschen Kicken reicht nicht mehr

Nagelsmanns Conclusio aus der Dysbalance zwischen Offensivpotenzial und defensiver Qual: "Wir können erfolgreich sein, wenn wir die Verteidigungszeit minimieren." Denn: "Wir werden auch im Sommer keine Verteidigungs-Monster werden. Das sind wir nicht." Also hat Nagelsmann eine Idee: Ein Hoch auf die Arbeiterklasse! Es ginge künftig nur "über extrem harte Arbeit", da man akzeptieren müsse, "mit ein bisschen Kicken da nicht rauskommen" könne. Er selbst müsse mit Hilfe der "Kaderzusammenstellung ein Gefüge auf dem Platz bauen, um weg davon zu kommen, dass wir alle tolle Fußballer sind, was sie zweifelsfrei sind, hin zu mehr Fußball arbeiten. Von Mentalität und Emotion hin zur Qualität – und nicht umgekehrt." 

Er gibt allerdings auch zu: "Es brennt mir als Trainer unter den Nägeln, wenn du die ganzen Talente siehst, die wir haben. Aber dann musst du vielleicht in die Faust beißen und sagen: Ich stelle ein Top-Talent weniger auf, dafür einen Worker mehr." Was er meinte: Einen defensiv denkenden Arbeiter, einen Typ fürs Grobe, der sich für keinen Grätsche und keinen Lauf zu schade ist, als Beispiel nannte Nagelsmann Österreichs Sechser Xaver Schlager von RB Leipzig. "Als Trainer hast du die Hoffnung: Okay, wenn du fünf Zauberer hast, die wuppen dir das vielleicht. Normalerweise, wenn wir das Vertrauen haben und in den letzten Jahren mehr Spiele gewonnen hätten als verloren, dann würden die wuppen, wie es mehr wuppen gar nicht geht. Aber wir haben eben nicht so viele Spiele gewonnen."

Mal sehen, wie die neue Arbeiterklasse die nächsten Testspiele im März wuppt. Als Gegner hat der DFB Vizeweltmeister Frankreich (in Lyon) und die Niederlande (in Frankfurt) auf dem Wunschzettel – große Kaliber. Ob man sich damit einen Gefallen tut?

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel