Es wäre ein sinnvoller Gesichtsverlust: Kommentar zu einer möglichen Weiterbeschäftigung von Thomas Tuchel beim FC Bayern München

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Auf einmal erscheint eine Weiterbeschäftigung von Thomas Tuchel beim FC Bayern als realistische Option. Der Trainer wäre mächtiger als zuvor, mehrere Spieler müssten um ihre Zukunft in München zittern, für die beteiligten Bosse wäre es ein sinnvoller Gesichtsverlust - und Max Eberl müsste sich ein Versagen eingestehen. Ein Kommentar.

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Um einen möglichen Gesichtsverlust des FC Bayern München ging es vor einigen Wochen schon einmal, und zwar als Julian Nagelsmann (zur Erinnerung: Kandidat 2 von 5) intensiv als neuer (alter) Trainer gehandelt wurde. Nur etwa ein Jahr, nachdem er ziemlich würdelos und vorschnell aus München verjagt worden war. Nagelsmann entschied sich aber letztlich für eine Vertragsverlängerung beim DFB.

Der FC Bayern darf sich glücklich schätzen, dass ihm diese Option erspart geblieben ist. Einerseits hätte sich der zweifellos herausragende Trainer in den kommenden Wochen kaum um den dringend benötigten Kader-Umbruch kümmern können, weil so eine Heim-EM mit der deutschen Nationalmannschaft ja doch ein eher arbeitszeitfüllendes Projekt darstellt. Andererseits hätte eine Rückkehr Nagelsmanns für den Klub ein kaum darstellbares finanzielles Fiasko bedeutet.

Vor dem Interesse an Nagelsmann hatte bereits Xabi Alonso abgesagt, seitdem scheiterten Verpflichtungen von Ralf Rangnick und Oliver Glasner. Somit sind die Münchner bei Kandidat Nummer 5 angekommen, dem aktuellen Trainer. Zufälle gibt es! Aber mei, halt auch nicht unbegrenzt viele Trainer. Auch eine Weiterbeschäftigung Tuchels würde für die Bosse einen Gesichtsverlust bedeuten, vermutlich sogar einen noch größeren als eine Rückkehr Nagelsmanns. Gleichzeitig wäre es aber ein sinnvollerer und billigerer Gesichtsverlust. Stand jetzt ist Tuchel der beste verfügbare Kandidat.

Tuchel hat Zeit und einen Vertrag bis 2025 und seit der Trennungs-Verkündung im Februar zudem fachliche Klasse und Charakter nachgewiesen. Trotz der aus seiner Sicht schwierigen (und schwer zu akzeptierenden) Situation coachte er seine angeschlagene Mannschaft akribisch beinahe ins Champions-League-Finale. Laut Süddeutscher Zeitung stehen 80 Prozent der Spieler hinter Tuchel. Die Kapitäne Manuel Neuer und Thomas Müller sowie Torjäger Harry Kane sollen sich explizit für eine Weiterbeschäftigung ausgesprochen haben.

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FC Bayern: Was eine Tuchel-Kehrtwende für die Bosse bedeuten würde

Den größten Gesichtsverlust im Falle einer Weiterbeschäftigung Tuchels würden die Bosse erleiden, die ihm vor drei Monaten gegen seinen Willen eine "einvernehmliche Trennung" aufzwangen. Der Vorstandsvorsitzende Jan-Christian Dreesen, der die Entscheidung immer wieder vehement verteidigte, und Präsident Herbert Hainer, der darüber hinaus öffentlich mit Rangnick kokettierte. Dazu Sportdirektor Christoph Freund. Schlecht aussehen würde vor allem auch Klub-Patron Uli Hoeneß, der Tuchel erst vor kurzem recht haltlos fehlendes Interesse an der Entwicklung junger Spieler unterstellte. Aleksandar Pavlovic fährt übrigens zur EM!

Gar keinen Gesichtsverlust müsste sich von den aktuellen Bossen einzig Max Eberl ankreiden lassen. Der neue Sportvorstand war bei der Trennungs-Ankündigung im Februar noch nicht im Amt und laut eigener Aussage auch "nicht involviert". Sehr wohl ankreiden lassen müsste er sich bei einer Weiterbeschäftigung Tuchels nach vier Absagen aber ein Versagen bei der von ihm federführend organisierten Trainersuche.

Das Hauptproblem des FC Bayern ist aber seit längerem ohnehin nicht der Trainer, welcher auch immer, sondern der Kader. Das scheinen auch die Bosse zu wissen, nahmen sie doch schon bei der Trennungs-Verkündung explizit die Mannschaft in die Pflicht. Tuchel forderte bereits vergangenen Sommer vergeblich einen größeren Umbruch und vor allem eine neue "Holding Six". Wünsche, die ihm letztlich nicht erfüllt wurden.

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FC Bayern: Was eine Tuchel-Kehrtwende für die Spieler bedeuten würde

Sollte sich Tuchel tatsächlich zu einer Weiterbeschäftigung bewegen lassen, würde der Trainer konkrete Zusagen in Sachen Transfers und Kader-Umbau verlangen, er wäre mächtiger als bisher. Sicher ist eine Bereitschaft Tuchels zu einer Kehrtwende übrigens keineswegs. Er müsste den Bossen verzeihen und sich gleichzeitig damit abfinden, Lückenbüßer und nur die fünfte Wahl zu sein. Er müsste sich mit Hoeneß arrangieren, der seine "Trainer-Ehre" verletzt hat. Und er müsste die Möglichkeit auf etwaige spannende Angebote aus der Premier League (FC Chelsea, Manchester United) ausschlagen.

Problematisch wäre ein Tuchel-Verbleib unterdessen für einige Führungsspieler, vor allem Joshua Kimmich und Leon Goretzka. Bei beiden konnte sich der Trainer schon vergangenen Sommer eine Trennung vorstellen, beide zählte er seitdem in unterschiedlicher Hinsicht an. Der öffentlich formulierte Wunsch nach einer "Holding Six", Kimmichs Versetzung nach rechts hinten, Goretzkas Bankplatz beim Halbfinal-Rückspiel in Madrid. Tuchels Kader-Umbau würde wohl genau hier im Mittelfeldzentrum beginnen.

Und sich in der Innenverteidigung fortsetzen? Obwohl Matthijs de Ligt in der Rückrunde stabil ablieferte, gilt Tuchel wegen dessen Spieleröffnung nicht unbedingt als Fan. Die fehleranfälligen Dayot Upamecano und Min-Jae Kim kritisierte er öffentlich. Im Winter hoffte Tuchel auf eine Verpflichtung von Ronald Araujo. Nicht erfreut über eine mögliche Kehrtwende wäre wohl auch Mathys Tel, der sich im Laufe der Saison mehr Spielzeit erhofft hatte. Nach der angekündigten Tuchel-Trennung meldete sich sein Berater durchaus vielsagend zu Wort, nur wenige Tage später verlängerte Tel mit Aussicht auf einen neuen Trainer vorzeitig bis 2029.